Personalisierung der Hochschullehre
Die Diversität der Studierenden hat an Hochschulen in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. In der Folge wurden besondere Stellen geschaffen, welche einen barrierefreien Zugang oder Nicht-Diskriminierung sicherstellen, und zunehmend wurden auch Anpassungen in der Lehre gefordert. Mit Flexibilisierungsmassnahmen, Binnendifferenzierung bzw. Individualisierung oder gar Personalisierung soll man der Verschiedenheit der Studierenden besser gerecht werden. Auf der Basis einer Studie wird aufgezeigt, wie Lehre im Bereich Ausbildung an einer Pädagogischen Hochschule personalisiert geplant und durchgeführt wird.
Diversität als Herausforderung
An die Hochschule kamen wohl schon immer sehr unterschiedliche Studierende. Das Bewusstsein über die sehr diversen Lern- und Leistungsprofile (denken wir dabei zum Beispiel an die unterschiedlichen Schwerpunkt-, Ergänzungs- und Wahlfächer an den Gymnasien), die verschiedenen Biografien (Migration, Zweitstudium) oder unterschiedliche Ziele (Employability: optimale Qualifikation für eine bestimmte berufliche Stellung, Vorbereitung auf akademische Karriere, persönliche Bildung) hat in der postmodernen Gesellschaft an Bedeutung gewonnen (Ewinger, Ternès, Koerbel & Towers, 2016; Lyotard, 2019). Hochschulen sollen die Verschiedenheit konstruktiv nutzen und die Ausbildung unterschiedlicher Profile bewusst fördern. Gleichzeitig stehen Hochschulen aber in der Pflicht, gleichwertige und vergleichbare Abschlüsse zu gewährleisten. Darum müssen sie ihre Ausbildungsprogramme nach fachlichen und teilweise auch politischen Vorgaben ausrichten und sicherstellen, dass alle Studierenden bestimmte Standards erreichen.
Ein Blick in die strategische Ausrichtung der Hochschulen zeigt, dass der Auftrag breit anerkannt ist, die Verschiedenheit der Studierenden ernst zu nehmen1. Die Verschiedenheit der Studierenden wird als Diversität beschrieben. Der Begriff «Diversität», abgeleitet vom englischen «diversity», hat sich in der deutschsprachigen Fachliteratur durchgesetzt, um Vielfalt, Verschiedenheit oder Verschiedenartigkeit zwischen Individuen einer Gruppe zu beschreiben (Wielepp, 2013, S. 364). Im Gegensatz zum Heterogenitätsbegriff werden mit Diversität stärker noch die Gemeinsamkeiten (similarities) und somit das soziale und kulturelle Kapital der gesamten Gruppe betont (Spelsberg-Papazoglou, 2017, S. 32–33). Über Bildungsprozesse wird versucht, das gesamte Potenzial einer Gruppe optimal zu entwickeln, was bedingt, dass eine Passung zwischen den Lernanforderungen und den Möglichkeiten der Lernenden hergestellt wird. Ziele und methodisch-überfachliche Anforderungen müssen dafür in eine Zone der proximalen Entwicklung gebracht werden (Vygotskij, 2017). Die Lehranforderungen sollen also für alle Studierenden weder zu schwierig noch zu einfach sein.
In diesem Beitrag wird aufgezeigt, wie über Planungs- und Durchführungsentscheidungen personalisierte Lehre im Rahmen der Ausbildung an einer Pädagogischen Hochschule umgesetzt wird. Personalisierte Lehre zeichnet sich dadurch aus, dass die Lernanforderungen und das methodische Vorgehen massgeblich von den Studierenden den eigenen Interessen, Zielen, Lern- und Leistungsmöglichkeiten entsprechend gestaltet wird (Joller-Graf, 2021). Personalisierte Lehre wird damit von Massnahmen der Binnendifferenzierung bzw. Individualisierung abgegrenzt, wo die Lehrenden Anpassungen für bestimmte Anspruchs- bzw. Leistungsgruppen oder bestimmte Lernende vornehmen. Es handelt sich ebenfalls nicht um eine Personalisierung der Lehre, wenn das Lehr-/Lernangebot nicht verändert wird, sondern lediglich die zeitliche Abfolge angepasst werden darf. In diesem Fall würde es sich um flexibilisierte Lehre handeln (Joller-Graf, 2021).
Der Beitrag basiert auf der 2021 publizierten Studie «Personalisierte Lehre. Diversität aus einer hochschuldidaktischen Perspektive» (Joller-Graf, 2021). Im Rahmen dieser explorativen Studie wurde untersucht, wie Dozierende an der Pädagogischen Hochschule Luzern in der Lehre Personalisierung im eben geschilderten Verständnis umsetzen. Dazu wurden mit sechs Dozierenden zwischen August und Oktober 2020 problemorientierte Interviews geführt. Diese Dozierenden gaben an, dass sie personalisierte Lehre umsetzen.2 Die Dozierenden stammen aus den Bildungs- und Sozialwissenschaften wie auch aus der fachdidaktischen Ausbildung. Es wurden Module der Bachelor- wie auch der Masterstufe beschrieben.
Die Interviews wurden mit einem Leitfaden strukturiert. Es wurden Fragen zur persönlichen Motivation für die Personalisierung gestellt. Zudem gaben die Dozierenden Einblick in die Planung personalisierter Lehrangebote, in die konkrete Durchführung und in die Leistungsüberprüfung. In einem Fazit fassten die Dozierenden die wichtigsten Punkte zusammen. Die Auswertung fand als zusammenfassende Inhaltsanalyse (Mayring, 2015) statt. Als Kodiereinheit wurde jede im Interview formulierte, geschlossene Sinneinheit verwendet, welche als eigenständiger Träger des Objektbereichs eruiert werden konnte. Teilweise wurden die Aussagen paraphrasiert, teilweise als Originalaussagen in die Auswertung übernommen.
Im Folgenden werden wesentliche Aussagen zur Planung und zur Durchführung einer personalisierten Lehre dargestellt. Ein Blick auf die Herausforderungen aus Sicht der Dozierenden rundet diesen Beitrag ab.
Planung personalisierter Lehre
Die Dozierenden beschreiben für die Planung einen deutlichen Perspektivenwechsel. Zwar hätte es immer schon ein Bemühen gegeben, die Lehre aus der Perspektive der Lernenden zu planen. Dennoch sei die Frage, wie optimale Möglichkeiten für individuelle Interessen, Ziele, Lernmöglichkeiten und unterschiedliches Vorwissen geboten werden können, spätestens auf den zweiten Blick doch sehr verschieden von der Frage, wie die Studierenden am besten das lernen, was für sie vorgesehen ist. Grundsätzlich geht es also um eine Planung, die den Shift from Teaching to Learning (Barr & Tagg, 1995) konsequent vollzieht.
(Vor-)Erfahrungen von Studierenden
Eine Planungsherausforderung, welche in den Interviews aufscheint, ist die Frage, wie die unterschiedlichen (Vor-)Erfahrungen der Lernenden integriert werden können. Zum Zeitpunkt der Modulplanung sind diese in der Regel noch nicht bekannt, weil man die Studierenden zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kennt. Will man die Studierenden zuerst aber kennenlernen, dann macht das Druck auf die eigene Planung, die in wesentlichen Teilen erst nach einer ersten Veranstaltung erstellt werden könnte. Eine Dozierende schildert als Idee, dass man vorgängige Planungstreffen einplanen sollte: Zum Ende des Frühlingssemesters könnte man sich mit den Studierenden der künftigen Kursgruppe ein erstes Mal treffen und das Modul gemeinsam planen. Auf dieser Basis könnte eruiert werden, welche (besonderen) Erfahrungen und Kompetenzen in der Gruppe vorhanden sind und wie diese genutzt werden könnten. Umgesetzt wurde diese Idee bislang aber noch nicht.
Eine schriftliche Erwartungsabfrage in einer frühen Phase der Modulplanung wird als weitere Möglichkeit gesehen und wird auch umgesetzt. Vor allem, wenn eine personalisierte Auseinandersetzung erst für die zweite Modulhälfte vorgesehen ist. Es wird in den Interviews aber darauf hingewiesen, dass sich die Studierenden so früh im Modul meist noch wenig mit dem Thema und ihrem Vorwissen befasst hätten und die Aussagen darum oft sehr vage und unspezifisch ausfallen würden.
Es gibt auch Dozierende, welche über die Jahre eine gute Vorstellung aufgebaut haben, wie divers die Vorerfahrungen und Möglichkeiten der Studierenden sein können und sie konzipieren Wahlangebote für die höchstmögliche vorstellbare Diversität.
Selbstorganisation
Die Dozierenden rücken in der Planungsphase eines Moduls sehr früh die Selbstorganisation der Studierenden ins Zentrum. Dabei fragen sich die Dozierenden, welche Möglichkeiten sich Studierenden bieten, zur Thematik des Moduls selbst etwas herauszufinden. In der Lehrpersonenbildung bieten Praxiseinsätze einen Feldzugang, um eigenen Fragestellungen nachzugehen. Aber auch Kontakte zu diversen Stakeholdern (zum Beispiel Schulleitungen, Eltern, Behörden) können genutzt werden. Aufgrund solcher Möglichkeiten wird dann überlegt, was die Studierenden wissen oder können müssten, um sich kompetent diese Felder für das eigene Lernen zu erschliessen. Damit wird umgesetzt, was Stebler, Pauli und Reusser (2018, S. 163) als Merkmal einer personalisierten Lernumgebung beschreiben: «Freiraum für den persönlichen Anschluss zu den Lerninhalten und zur Erschließung der Bedeutung von Lernerfahrungen für das eigene Leben.»
Je nach Ausgangslage greifen die Dozierenden auf zwei didaktische Konzepte zurück. Einerseits auf projektartiges Lernen, wo Studierende eigenen Fragestellungen nachgehen und im Sinne des forschenden Lernens etwas herausfinden oder im Sinne eines Entwicklungsprozesses etwas (materiell oder immateriell) herstellen, implementieren und evaluieren. Anderseits auf das Lernen in Lernumgebungen, wo über eine Fülle unterschiedlicher Aufgaben und Materialien ein Lernangebot bereitgestellt wird, mit welchem unterschiedliche Lernwege gestaltet werden können. Je mehr verschiedenartige Aufgaben zur Verfügung stehen, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass Studierende Aufgaben wählen können, welche dem eigenen Bedarf und den eigenen Bedürfnissen entsprechen.
In beiden Formaten ist es den Dozierenden wichtig, dass die Studierenden reflektiert entscheiden. Dafür planen sie Wahlentscheidungen mit Begründungspflicht ein: Die Studierenden haben (kurz) zu begründen, was sie sich von der Bearbeitung der Aufgabe für sich persönlich als Lernzuwachs erhoffen und weshalb sie das als persönlich bedeutsam ansehen. Diese Begründung wird den Dozierenden schriftlich abgegeben, die damit die Möglichkeit für eine kritische Reaktion haben.
Kooperationen
Ein interessantes Ergebnis der Studie ist, dass Personalisierung zwar sehr stark auf das Individuum ausgerichtet ist, dass die damit betonte Verschiedenheit aber für die Ausbildung dann besonders ertragreich wird, wenn sie über Kooperation verknüpft wird. Entsprechend hohen Wert legen die Dozierenden im Zusammenhang mit einer personalisierten Lehre auf kooperatives Lernen. Der grösste Lerngewinn werde durch das Vergleichen bzw. das Feststellen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden realisiert. Vor allem würden die Studierenden so sehr direkt erfahren, dass sie nicht nur von der Expertise der Dozierenden profitieren würden, sondern sowohl fachlich wie auch methodisch Mitstudierende genauso hilfreich sein können. Ein Aspekt, der aber keinesfalls als Selbstläufer erlebt werde. Verschiedentlich wird auf die Sozialisation der Studierenden hingewiesen, die offensichtlich sehr stark durch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis geprägt sei.
Zielvorgaben
Eine wichtige Frage ist, welche Bedeutung dem Formulieren von Zielvorgaben zukommt, da dies gemeinhin den Start einer didaktischen Planung ausmacht. Die Dozierenden in der Untersuchung geben an, dass sie durchaus Ziele vorgeben. Pflichtlernziele würden helfen, innerhalb einer Thematik Schwerpunkte zu setzen. Dort sei es wichtig, dass die Studierenden die Bedeutung dieser Ziele genau verstehen. Mit solchen Zielen gehen die Dozierenden aber sehr zurückhaltend um. Zudem fordern sie die Studierenden auf, zur Thematik noch eigene Ziele zu formulieren, welche für die Beurteilung zumindest gleichwertig sind.
Leistungsbeurteilung
Ein wichtiger Planungsbereich stellt die Leistungsbeurteilung dar. Die Dozierenden sind sich einig, dass durch den hohen Freiheitsgrad für die Studierenden eine schwierige Ausgangslage für summative Beurteilung geschaffen werde. Und verschiedene Dozierende geben zu, dass sie vom Vorteil profitieren würden, dass sie in ihrem Modul keine summative Bewertung vornehmen müssten. Dennoch halten sie eine Beurteilung für möglich. So wird berichtet, dass unterschiedliche Möglichkeiten der Beurteilung angeboten würden. Gemeinsam einige man sich früh, mit welcher Form am besten belegt werden könne, dass (und was) gelernt wurde. Dabei sei es selten so, dass primär auf ein Ergebnis fokussiert werde. Das sei sehr individuell. Eher würden bestimmte überfachliche bzw. methodische Aspekte beurteilt.
Und schliesslich betonen die Dozierenden, dass personalisierte Lehre auch darauf ausgerichtet sei, die Selbstreflexion zu stärken. Gerade hinsichtlich der Nachhaltigkeit wird immer wieder betont, dass die Ausbildung nicht nur darauf abziele, etwas Bestimmtes zu wissen oder zu können, sondern ganz stark auch darauf, ähnliche Situationen in anderen Kontexten bewältigen zu können. Selbstreflexion im Sinne einer Selbstbeurteilung finde dabei keineswegs immer nur am Schluss eines Lernprozesses statt. Die Dozierenden planen Reflexionsphasen auch an wichtigen Übergängen ein und stellen den Studierenden Instrumente zur Verfügung, um bei Bedarf jederzeit vertiefte Reflexion anzuregen, zum Beispiel wenn Studierende befürchten, den Überblick zu verlieren.
Durchführung personalisierter Lehre
Neben diesen Planungsentscheiden ist es eine Vielzahl von Durchführungsentscheiden, welche aus Sicht der Dozierenden eine personalisierte Lehre ausmachen. Es gilt, die Lernenden in ihrem Lernen zu beraten. Das dürfe nicht verwechselt werden mit einem blossen «Machen-lassen». Vielmehr gelte es zu verstehen, was die Lernenden für sich erreichen wollen (und warum) und sie dabei bestmöglich zu unterstützen.
Ermutigung
Während die Studierenden ihre Lernschritte planen, müssen sie immer wieder ermutigt werden, stellen die Dozierenden fest. Teilweise seien die Lernenden sehr stark so sozialisiert, dass sie in institutionellen Settings «bedient» würden. Dieser Mentalität würden sie als Dozierende sich in der personalisierten Lehre bewusst verweigern, damit die Studierenden effektiv entscheiden müssten, was für sie persönlich relevant sei. Gleichzeitig würden sie aber darauf achten, dass sich die Studierenden nie alleingelassen fühlen. Das Prinzip laute immer: «Ich helfe dir, das zu lernen, was dir wichtig ist und es auf die Art zu lernen, wie es für dich günstig ist.»
Coaching
In einer frühen Phase achten die Dozierenden sehr darauf, dass die Studierenden für sie passende und gewinnbringende Lernziele formulieren, sinnvolle Lernschritte planen und geeignete Strategien auswählen. Diese Unterstützung sei wichtig, damit selbstorganisierte Lernprozesse nicht zu einem «Lernen durch Versuch und Irrtum» werden.
In der Umsetzung kann bei den Lernenden Verwirrung entstehen, wenn sie in ihren Recherchen auf widersprüchliche Informationen treffen würden. Da helfen Dozierende, die Komplexität auszuhalten und sie würden aufzeigen, wie gerade aus solchen Widersprüchen heraus interessante weiterführende Fragen gestellt werden können.
Wenn man den Studierenden Möglichkeiten zur Selbstorganisation biete, dann ist es gemäss den interviewten Dozierenden wichtig, dass sie über klare Informationen zu den Möglichkeiten und den Zielen des Angebots verfügen, um sich für oder gegen etwas zu entscheiden. Wo Dozierende Studierende in einem längeren Prozess begleiten, können sie ihnen direkte Feedbacks geben oder sie hinsichtlich der Wahlmöglichkeiten beraten. Ist das nicht gegeben, erweisen sich freiwillige formative Tests, Musterlösungen oder Checklisten als hilfreich. Und schliesslich wird auch davon berichtet, dass die Studierenden aufgefordert werden, ihre Planung, zum Beispiel in Form einer Projektskizze, zusammen mit Fachpersonen ausserhalb der Hochschule (Arbeitgeber, Praxislehrpersonen) zu besprechen und so mit critical friends zu validieren.
Vernetzung
Eine wichtige Rolle sehen die Dozierenden in der Verknüpfung der verschiedenen Lernenden. Durch die Einblicke in die Lern- und Denkwege der Studierenden können sie interessante Kooperationen anregen oder Möglichkeiten vermitteln. Hier gilt es fein abzuwägen zwischen einem sozialen Anspruch (Gruppe als Lerngruppe zusammenhalten) und dem Anspruch, individuell passend zu lernen. In der personalisierten Lehre gehe der zweite Anspruch vor.
Wissensvermittlung
Ab und zu gilt es einen inhaltlichen Beitrag einzubringen. Auch das widerspricht aus Sicht der Dozierenden nicht der Auffassung einer personalisierten Lehre. Dozierende stehen mit ihrem Wissen zur Verfügung und dieses soll genutzt werden. Als Grundsätze werden dazu formuliert: So kurz wie möglich und nie an alle zur gleichen Zeit. Teilweise bauen Dozierende einen Materialienpool auf, welcher bei Bedarf genutzt wird. Ist ein bestimmtes Verfahren nicht mehr klar? Muss sich jemand zu einer bestimmten Methode die wichtigsten Punkte nochmals vergegenwärtigen? Stellt sich heraus, dass ein bestimmtes Vorwissen nicht mehr vorhanden ist? Werden bestimmte Fragen immer wieder gestellt? Bei Bedarf können Studierende auf (elektronische) Karteikarten, gut strukturierte schriftliche Materialien oder kurze Erklärvideos verwiesen werden, die auf einer Lernplattform zur Verfügung stehen.
Beurteilung
Im Rahmen einer abschliessenden Beurteilungsphase nehmen die Dozierenden die Rolle eines kritischen Gegenübers ein, indem sie Erkenntnisse in Frage stellen oder übergeordnete Erwartungen vertreten («Wenn ich jetzt Ihr Vorgesetzter wäre…»). In einem solchen Prozess wird gemeinsam nach Optimierungs- bzw. Weiterentwicklungsmöglichkeiten gesucht. Dabei soll nicht nur auf Effizienzgewinne fokussiert werden. Gerade kreative Entwicklungsmöglichkeiten oder spannende Diskrepanzen werden als äusserst anregend betrachtet.
Viel wichtiger als eine abschliessende Bewertung ist es in einer personalisierten Lehre, Möglichkeiten der Weiterentwicklung aufzuzeigen und so die prinzipielle Unabgeschlossenheit von Lernen zu betonen.
Herausforderungen personalisierter Lehre
Bezogen auf die Herausforderungen, die mit personalisierter Lehre verbunden sind, nennen die Dozierenden neben der bereits angesprochenen Bewertung vier Hauptpunkte: den didaktischen Anspruch an sie als Dozierende, den Aufwand bzw. das hohe persönliche Investment während der Durchführung, eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis als Dozentin bzw. Dozent und schliesslich die Eingebundenheit in fixe Zeitstrukturen.
Die Bereitstellung personalisierter Lernangebote ist didaktisch anspruchsvoller als eine «one fits all»-Lösung. Für die Hochschuldidaktik bedeutet das, dass sie ihre Fokussierung auf Vorlesungsformate und Seminarformen deutlich erweitern musste. So sind in den letzten Jahren insbesondere im Zuge der Digitalisierung neue, hochschultaugliche didaktische Formate entwickelt worden, welche Dozierenden Möglichkeiten geben, der Diversität von Studierenden Raum zu geben. Das Just-in-time-Teaching, wo Studierende sich vorbereiten und dann ihre Fragen einbringen, das Problem Based Learning, wo mit authentischen Problemstellungen gearbeitet wird, das forschende Lernen, wo Studierende vom Generieren der Fragestellung bis zur Präsentation der Ergebnisse einen ganzen Forschungsprozess selbständig durchlaufen oder das Jigsaw, wo sich Studierende in einem selbstgewählten Bereich Expertise aufbauen und diese dann den anderen Studierenden vermitteln, sind nur einige Beispiele. Diese Formen müssen von den Dozierenden gelernt und geübt werden. Dafür braucht es entsprechende Weiterbildungsmöglichkeiten.
Es entspricht einem ökonomischen Grundprinzip, dass Massanfertigungen ressourcenintensiver sind. Personalisierte Lehre verlangt von den Dozierenden oft ein hohes Investment, das sich meist erst über mehrere Durchführungen auszahlt. Bei Grundlagen-Modulen, die über viele Jahre in sehr ähnlicher Art angeboten werden können, ist das meist gegeben. Die Personalisierung hat da aber noch nicht dieselbe Dringlichkeit wie in höheren Semestern, wo das Ausbilden individueller Profile Teil des Ausbildungsanspruchs ist. Wird dort mit immer wieder inhaltlich wechselnden Modulen für ein attraktives Angebot gesorgt, muss der Mehraufwand personalisierter Module noch immer primär von den Dozierenden selbst getragen werden.
Dozierende sprechen auch an, dass es für sie immer wieder eine besondere Herausforderung darstelle, eigenen Enttäuschungen vorzubeugen. Es sei möglich, dass aus ihrer Sicht Freiheiten missbraucht oder dass die Offenheit von Vorgaben von den Studierenden eigennützig ausgelegt würden, zum Beispiel indem sich Studierende «etwas gar wenig fordern». Dozierende berichteten auch vom Reflex, in solchen Fällen personalisierte Lehre abzubrechen, alles rückgängig zu machen und auf dozierendengesteuerte Lehre umzuschalten. Daran müsse man sich erst gewöhnen bzw. dem beschriebenen Reflex müsse man widerstehen können, wenn man es wirklich ernst meine, Lernen als individuellen Prozess zu sehen.
Eine Herausforderung für personalisiertes Lehren, welches von den Dozierenden grundsätzlich als unabgeschlossen verstanden wird, bieten die zeitlichen Vorgaben. Die Dozierenden sehen es als eine Pflicht, die institutionellen Zeitvorgaben mit den individuellen Lerntempi abzugleichen, was teilweise zu einem echten Dilemma werden könne. Die Studierenden sollen sich die Zeit nehmen können, die sie brauchen, gleichzeitig sollen aber auch sinnvolle (Teil-)Ziele innerhalb der Zeitvorgaben erreicht werden. Zentral seien dabei die Planungen der Lernenden. Es gelte sicherzustellen, dass sie sich nicht zu viel vornehmen und unrealistische Ziele stecken. Die meisten Dozierenden ziehen die Planungen ein, überprüfen sie und melden allfällige Bedenken zurück.
Gerade mit Blick auf die Strategieziele der Hochschulen müsste eine Entwicklung einsetzen, vielfältigere Formen zu etablieren und das Lehrdeputat nicht nur an der Anzahl der Semesterwochenstunden, sondern auch am Grad der Personalisierung festzumachen. Personalisierte Lehre generiert einen hohen Mehrwert, ist institutionell gewollt und wird von den Studierenden honoriert. Entsprechende Investitionen zahlen sich für die Hochschulen daher aus.
- In Strategiepapieren findet man Bekenntnisse wie: «Wir begreifen Diversität in allen Aspekten als Chance» - ETH Zürich (2021); «Für die Universität sind Diversität sowie die vielfältigen Perspektiven der Universitätsangehörigen ein wesentlicher Bestandteil von Exzellenz in Forschung, Lehre und Administration» - Universität Bern (2021); «Förderung des konstruktiven Umgangs mit der Diversität in Schule und Bildung» - PH Luzern (2019).
- Eine zusätzliche Validierung dieser Selbstdeklaration fand nicht statt. Im Rahmen der Interviews zeigte sich aber, dass alle Interviews verwendet werden konnten, weil sie konkrete Aussagen zu personalisierten Lernangeboten der Hochschule machten.
Literatur
Barr, R. B. & Tagg, J. (1995). From teaching to learning. A new paradigm for undergraduate education. Change, 27(6), 13–25.
ETH Zürich (2021). Strategie- und Entwicklungsplan 2021–2024. Zürich.
Ewinger, D., Ternès, A., Koerbel, J. & Towers, I. (2016). Arbeitswelt im Zeitalter der Individualisierung. Trends: Multigrafie und Multi-Option in der Generation Y (essentials). Wiesbaden: Springer Gabler. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12753-4
Joller-Graf, K. (2021). Personalisierte Lehre. Diversität aus einer hochschuldidaktischen Perspektive. Pädagogische Hochschule Luzern, Luzern. Verfügbar unter: https://doi.org/10.5281/zenodo.4905744
Lyotard, J.‑F. (2019). Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (Passagen forum, 9., überarbeitete Auflage). Wien: Passagen.
Mayring, P. (2015). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken (12. Auflage). Weinheim: Julius Beltz GmbH & Co. KG.
Pädagogische Hochschule Luzern (2019). Strategische Ziele bis 2025. Strategiereview 2018/19. Luzern.
Spelsberg-Papazoglou, K. (2017). Diversität in Studium und Lehre. In: B. Szczyrba, T. van Treeck, B. Wildt & J. Wildt (Hrsg.), Coaching (in) Diversity an Hochschulen (S. 29–45). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04611-8_3
Stebler, R., Pauli, C. & Reusser, K. (2018). Personalisiertes Lernen. Zur Analyse eines Bildungsschlagwortes und erste Ergebnisse aus der perLen-Studie. Zeitschrift für Pädagogik, 64(2), 159–178.
Universität Bern (2021). Strategie 2030. Bern.
Vygotskij, L. S. (2017). Denken und Sprechen. Psychologische Untersuchungen (3., neu ausgestattete Auflage). Weinheim: Beltz.
Wielepp, F. (2013). Heterogenität. Herausforderung der Hochschuldbildung im demografischen Wandel. In: P. Pasternack (Hrsg.), Jenseits der Metropolen. Hochschulen in demografisch herausgeforderten Regionen (Hochschulforschung Halle-Wittenberg, S. 363–387). Leipzig: Akad. Verl.-Anst.