02.12.2024
N°2 2024

Nachhaltigkeit als Lerngegenstand zur Förderung von Mündigkeit im Kontext beruflichen Handelns

Nachhaltigkeit als Lerngegenstand zeichnet sich durch Vielschichtigkeit und Komplexität sowie nicht zuletzt durch Normativität und eine entsprechende Instrumentalisierungsgefahr aus. Eine berufsbezogene Konkretisierung und eine oftmals starke Fokussierung auf ökonomische Nachhaltigkeit sind weitere, spezielle Herausforderungen von Nachhaltigkeit als Lerngegenstand der formalen Berufsbildung und der beruflichen Weiterbildung. Der Berufsbildung wird jedoch weithin eine Schlüsselrolle im Rahmen der Nachhaltigkeitstransformation beigemessen. Vor diesem Hintergrund skizziert der Beitrag Spezifika von Nachhaltigkeit als normativem Lerngegenstand und zeigt didaktische Wege auf, wie dieser Lerngegenstand in der beruflichen Aus- und Weiterbildung aufgegriffen werden kann, um jenseits einer Instrumentalisierung die berufliche Mündigkeit der Lernenden zu fördern.

Einleitung: Vom schwierigen Verhältnis von Nachhaltigkeit und Bildung

Nachhaltigkeit zeichnet sich durch Vielschichtigkeit und Komplexität aus. So kann Nachhaltigkeit – auch bezogen auf die Sustainable Development Goals (SDGs) (Vereinte Nationen, 2015) – beispielsweise in die Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales differenziert werden, zwischen denen sich verschiedene Spannungsverhältnisse ergeben. Fungiert Nachhaltigkeit als Lerngegenstand, wie dies auch in SDG 4.7 eingefordert wird, gilt es, in dementsprechenden Bildungsprozessen mit dieser Vielschichtigkeit und Komplexität umzugehen. Die Verbindung zwischen Nachhaltigkeit und Bildung manifestiert sich aufbauend auf SDG 4.7 in verschiedenen Konzepten wie Global Citizenship Education (GCE), Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und Globales Lernen.

Bei derartigen Bildungsansätzen besteht eine grundsätzliche Herausforderung in der möglichen Instrumentalisierung durch die Orientierung an einer normativen Vorgabe, die es mithilfe von Bildung zu erfüllen gilt (Zurstrassen, 2022, S. 25). Die Auseinandersetzung mit der Frage, «was pädagogisch getan und unterlassen werden» (Ruhloff, 1980, S. 24) soll, betrifft nicht nur Nachhaltigkeit als Lerngegenstand. In Bezug auf Nachhaltigkeit ist die Normativität beispielsweise in einer Ausrichtung am Leitbild einer intra- und intergenerationalen Gerechtigkeit (Hauff, 1987) identifizierbar, die auch in den SDGs verankert ist (Laub, 2021; Wagener, 2019). Dies kann dazu führen, dass vordefinierte Ziele verfolgt werden, die möglicherweise mehr den Bedürfnissen und Interessen der Lehrenden als denjenigen der Lernenden entsprechen (Marshall, 2011, S. 414). Eine solche Instrumentalisierung von Bildung führt nach Freire (1972) zu Entmenschlichung, zur Reproduktion von Ungerechtigkeit sowie zur Einschränkung der Autonomie und Kreativität der Lernenden und ist beispielsweise auch im Sinne des ‹Überwältigungsverbots› der politischen Bildung unzulässig (Sander, 2009). Bildung liegt also immer eine Instrumentalisierungsgefahr zugrunde, auch im Kontext von Nachhaltigkeit.

BNE steht vor diesem Hintergrund in einem «Spannungsfeld zwischen normativer Offenheit und Geschlossenheit» (Asmussen et al., 2020, S. 43) und hat daher seit jeher das Problem, als normative Verhaltensaufforderung (miss-)verstanden zu werden (Weselek, 2019, S. 145), die eher zu Affirmation führen und weniger eine Emanzipation fördern dürfte. Wagener (2019) verweist auf zahlreiche empirische Belege dafür, dass normativ-moralische Appelle vonseiten der Lehrkräfte bei Lernenden zu einer Abwehrhaltung führen können, wodurch sie letztlich sogar die Effektivität einer BNE untergraben. So stellt sich die Frage, wie mit einer Ausrichtung an den Leitbildern Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit als implizite Normativität umgegangen werden und gleichzeitig ein selbstbestimmtes Handeln, das auch als solches wahrgenommen wird, ermöglicht werden kann. Dabei besteht kein vorgefertigter Weg, wie mit der Instrumentalisierungsgefahr umzugehen ist. Wichtig ist, dass normative Setzungen wie eine Orientierung an Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit «auch ausgesprochen und klar offen dargelegt wird, um nicht implizit zu indoktrinieren» (Tafner, 2018, S. 135). Die Lernenden sollen in die Lage versetzt werden, selbst als eigenständige, mündige Individuen begründete Entscheidungen zu treffen. Nachhaltigkeit als Lerngegenstand zielt damit nicht immer auf Verhaltensänderung ab, sondern auf eine Förderung von Mündigkeit als «Selbstbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit» (Tafner, 2018, S. 116).

Soll eine Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit in Bildungsprozessen jedoch entgegen der oben beschriebenen Instrumentalisierung Mündigkeit fördern, gehen hiermit herausfordernde Implikationen auf der Ebene pädagogischer und didaktischer Herangehensweisen einher (Laub, 2021). Nachhaltigkeit kann von daher bezeichnet werden als «normativer Leitstern, auf den es sich zuzubewegen gilt, der aber den richtigen Weg unbestimmt lässt und letztlich als Ziel unerreichbar bleibt» (Hirata, 2022, S. 45). Und Bildung erfordert in diesem Kontext eine ergebnisoffene Auseinandersetzung, die einer Instrumentalisierung im Rahmen des Nachvollziehens eines vermeintlich richtigen Wegs entgegensteht.

Vor dem Hintergrund dieses Verhältnisses von Nachhaltigkeit und Bildung wird im Folgenden ein konkreterer Blick auf Herausforderungen, aber auch Chancen dieses Verhältnisses zur Förderung beruflicher Mündigkeit im Rahmen der Berufsbildung geworfen. Dies geschieht erst einmal auf einer grundlegenderen Ebene, bevor hieraus dann auf didaktischer Ebene konkretere Konsequenzen für die Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements gezogen werden.

Nachhaltigkeit im Kontext der Berufsbildung

Im Kontext des Verhältnisses von Nachhaltigkeit und Bildung bietet die Berufsbildung1 im Speziellen ähnliche Herausforderungen, aber auch Chancen. Als Herausforderung zeigt sich auch hier der oben erwähnte komplexe und vielschichtige Charakter von Nachhaltigkeit – hier jedoch bezogen auf berufliches Handeln.

In der Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung (BBNE) kann analytisch unterschieden werden zwischen grundsätzlichen bzw. berufsübergreifenden sowie berufs- bzw. domänenspezifischen Konzeptionen. So wird mit Blick auf eine grundsätzliche Konzeption insbesondere das Verhältnis von Lernenden, ihrem (Berufs-)Handeln und deren Auswirkungen auf die Welt im Kontext einer individuellen (Berufs-)Identitätsentwicklung erörtert (Hantke, 2018; Tafner et al., 2022; Zurstrassen, 2022). Mit Blick auf eine spezifischere Konzeption werden hingegen Branchen-, Berufs- und Domänenspezifika als Ausgangspunkt einer BBNE betont (Kiepe, 2021). Gemeinsames Anliegen der unterschiedlichen Grundkonzeptionen ist jedoch, «Individuen in Beruf, Arbeit und Bildung zur kompetenten Mitgestaltung einer nachhaltigen Zukunft [zu] sensibilisieren, motivieren und befähigen» (Rebmann & Schlömer, 2020, S. 334). BBNE versteht sich somit als lebenslanger Prozess und zentrales Element von Bildung, das Individuen befähigt, mit gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen verantwortungsvoll umzugehen. Eine BBNE soll – erst einmal normativ gesprochen – dazu beitragen, die SDGs durch eine Veränderung des Berufshandelns zu erreichen.  

BBNE als eigene Diskurslinie innerhalb der BNE

Der Diskurs zur BBNE im Kontext der Aus- und Weiterbildung kann nicht als Teildiskurs einer BNE angesehen werden, sondern markiert eine eigene Diskurslinie. Einerseits liegt dies grundsätzlich am Bezug der BBNE zum beruflichen Handeln, andererseits liegt dies – in Deutschland – nicht zuletzt auch daran, dass die BBNE seit den 1990er Jahren insbesondere durch sogenannte Modellversuche des deutschen Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) gestaltet wird (z.B. Melzig et al., 2021) und dadurch – im Sinne eines eigenen Diskurses – an Aufmerksamkeit gewonnen hat (De Haan et al., 2021). Ganz im Sinne der oben skizzierten beiden Grundkonzeptionen einer BBNE haben die Modellversuche gezeigt, dass Nachhaltigkeit einerseits als Geschäftsmodell Ausgangspunkt einer arbeits- und geschäftsprozessorientierten BBNE dienen kann (Schlömer et al., 2021, S. 119). Hierbei geht es beispielsweise darum, in Lehr-Lern-Prozessen im Sinne einer Entrepreneurship Education nachhaltigere Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln, durch die ‹alte›, nicht nachhaltige Produkte oder Dienstleistungen ersetzt werden. Andererseits haben die Modellversuche auch gezeigt, dass es innerhalb der gegenwärtigen Arbeits- und Geschäftsprozesse zu strukturellen Dilemmata zwischen dem Anspruch einer nachhaltigen Entwicklung und einer rein wirtschaftlichen Entwicklung kommen kann, die sich nicht durch die Entwicklung nachhaltigerer Produkte oder Dienstleistungen lösen lassen (Fischer et al., 2021, S. 93 ff.). Hierbei geht es beispielsweise darum, in Lehr-Lern-Prozessen ein systemisches Verständnis für die Widersprüche eines auf Ressourcenverbrauch basierenden Wirtschaftens im Kontext ökologischer Belastungsgrenzen der Erde aufzubauen. Diese beiden exemplarischen Ausprägungen veranschaulichen die Breite des Diskurses zur BBNE.

Insbesondere mit Blick auf den Umgang mit der grundsätzlichen Normativität von Nachhaltigkeit und der damit zusammenhängenden Instrumentalisierungsgefahr besteht eine nicht zu unterschätzende Herausforderung in der praktischen Gestaltung von BBNE. Indem die SDGs beispielsweise einfordern, soziale und ökologische Dimensionen im Kontext der Erwerbsarbeit zu berücksichtigen, gleichzeitig aber in der Berufsbildung Marktmechanismen ein Handeln vornehmlich nach ökonomischen Dimensionen verlangen, stehen Beschäftigte vor Dilemmata. Diese Dilemmata des Umgangs mit unterschiedlichen handlungsleitenden Perspektiven zur Gestaltung des Wirtschaftens im Kontext gesellschaftlicher Entwicklung müssen Beschäftigte zwischen der Erfüllung konkreter Tätigkeiten unter utilitaristischen Massstäben und einem Einsatz für eine nachhaltigkeitsorientierte Veränderung dieser Prozesse austarieren (Tafner et al., 2022, S. 23). Derartige Dilemmata werden auch als DNA der BBNE bezeichnet (Fischer et al., 2021, S. 93 ff.).

Dilemmata als Chance der Berücksichtigung von Nachhaltigkeit in der Berufsbildung

Eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit von Nachhaltigkeit an betriebliche Routinen ist mittlerweile jedoch stellenweise gegeben. So setzen sich Unternehmen zum Beispiel mit gesellschaftspolitischen Ansätzen wie Corporate Social Responsibility (CSR) und Nachhaltigkeitsberichterstattung auseinander. Ausserdem können einige Branchen und Unternehmen ihre Existenz nur sichern, wenn sie ihre Arbeits- und Geschäftsprozesse an einem nachhaltigeren Wirtschaften ausrichten (Schlömer et al., 2021, S. 112). Daneben kann es in Zeiten des Fachkräftemangels auch aus Gründen der Fachkräftesicherung wichtig sein, mit einer Nachhaltigkeitsorientierung dem vermehrten Wunsch von Jugendlichen nach gesellschaftlich sinnhaften Tätigkeiten nachzukommen (Albert et al., 2019). Trotz dieser Tendenzen ist das betriebliche Nachhaltigkeitsengagement häufig jedoch überwiegend von ökonomischen Überlegungen geprägt. Daher haben sich die oben skizzierten Dilemmata im Kontext einer ‹ehrlichen› Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen im Kontext der Berufsbildung bislang noch nicht aufgelöst.

In diesen Dilemmata liegen jedoch auch Chancen der Umsetzung einer BBNE. Diese liegen insbesondere darin, die Dilemmata in Berufsbildungsprozessen zur Ausprägung beruflicher Mündigkeit in den Blick zu nehmen. Denn überträgt man die geschilderten Dilemmata auf die grundsätzliche Ebene der Berufsbildung, wird ersichtlich, dass der Berufsbildung ein Spannungsfeld zwischen Mündigkeit und Tüchtigkeit immanent ist, welches sich aus den grundsätzlich unterschiedlichen Interessen verschiedener Akteure ergibt. So strebt die Berufsbildung einerseits nach einer Bildung mündiger Bürger:innen, andererseits strebt sie – im Sinne von Qualifizierung – nach einer Verwertbarkeit der zu erwerbenden Kompetenzen für ökonomische Zwecke. Beide Perspektiven haben seit jeher rahmengebende Relevanz in der Berufsbildungsforschung (Dobischat & Düsseldorf, 2018). Die zuvor dargelegten Dilemmata bieten daher die Möglichkeit, diesen beiden an die Berufsbildung gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Dies gelingt im Kontext der BBNE potenziell durch eine Befähigung der Beschäftigten, in tatsächlichen beruflichen Situationen handlungsorientiert und damit mündig mit diesen Dilemmata umgehen zu können. Anders formuliert: Die Beschäftigten werden hierdurch in die Lage versetzt, ihre eigenen beruflichen Handlungsspielräume im mündigen Umgang mit Dilemmata einer nachhaltigen Entwicklung tüchtig nutzen zu können. Als besondere Merkmale der Berufsbildung gelten daher – in Abgrenzung zur Allgemeinbildung – Beruflichkeit und Situationsorientierung als dominierende Prinzipien zur Strukturierung von Arbeits- und Geschäftsprozessen (Beer & Frommberger, 2022) sowie Handlungsorientierung (Herkner & Pahl, 2020). In der Berücksichtigung dieser Wesensmerkmale liegt jedoch auch die Kritik, dass eine dominant arbeits- und geschäftsprozessorientierte Berufsbildung dazu tendiert, gesellschaftliche Problemlagen auszublenden (Tafner et al., 2022, S. 23), obwohl gerade die BBNE diese in die Berufsbildungsprozesse integrieren müsste.

Konsequenzen für die Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements  

Grundfrage der Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements einer BBNE im Kontext der vorangegangenen Ausführungen ist, wie in Berufsbildungsprozessen nun Nachhaltigkeit als normativer Lerngegenstand aufgegriffen werden kann, sich aber eine einseitige Instrumentalisierung verhindern und dagegen berufliche Mündigkeit fördern lässt. Eine Möglichkeit, diese spannungsbeladene Grundfrage im Rahmen einer BBNE zu berücksichtigen, ist die Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements auf Basis didaktischer Leitlinien, die ursprünglich Ergebnis der BIBB-Modellversuche waren (Vollmer & Kuhlmeier, 2014, S. 205 ff.), seitdem jedoch mit Blick auf die Berücksichtigung der SDGs weiterentwickelt und – wie im Diskurs eingefordert (Singer-Brodowski & Holst, 2022) – konkretisiert wurden (Holst & Hantke, 2023, S. 45 ff.). Diese Leitlinien beanspruchen eine Integration der oben gegeneinandergestellten Grundkonzeptionen einer BBNE. So setzen sie zunächst an Branchen-, Berufs- und Domänenspezifika an, fordern auf dieser Basis die Lernenden jedoch dazu heraus, ihr eigenes, ggf. auf Dilemmata beruhendes Verhältnis zwischen den SDGs und dem (Berufs-)Handeln mit Blick auf die beiderseitigen Auswirkungen im Kontext ihrer individuellen (Berufs-)Identitätsentwicklung zu reflektieren. Damit kann potenziell ein reflektierter Umgang mit dem oben problematisierten normativen Charakter von Nachhaltigkeit realisiert werden. Die Anwendung der didaktischen Leitlinien ist grundsätzlich in allen didaktisierten, formalisierten Settings der Aus- und Weiterbildung möglich, sei es in der Erstausbildung oder in der beruflichen Weiterbildung.

Konkret geht es in der Berücksichtigung der didaktischen Leitlinien darum, «die Lernenden dazu zu befähigen, ökologische und soziale Nachhaltigkeit mit dem konkreten [ökonomischen] Berufshandeln zu verbinden, und produktiv mit Zielkonflikten, Spannungsfeldern und möglichen Synergien zwischen ökonomischen Anreizen und ökologischer wie sozialer Nachhaltigkeit umzugehen, um damit ein ökonomisch tragfähiges und gleichzeitig sozial gerechtes Wirtschaften […] mitgestalten zu können» (Holst & Hantke, 2023, S. 47). Im Folgenden werden Leitfragen formuliert, mit denen dieser Anspruch eingelöst werden kann (ebd., S. 48 ff.). Die Leitfragen werden am Beispiel der kaufmännischen Praxis in der Transport- und Logistikbranche exemplarisch ausdifferenziert und sind in Abbildung 1 zusammenfassend dargestellt.

Leitfragen zur Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements einer BBNE, die exemplarisch am Beispiel der Transport- und Logistikbranche beantwortet werden:

  1. Welche beruflichen Handlungssituationen lassen sich aus der jeweiligen beruflichen Tätigkeit ableiten?  Exemplarische Handlungssituationen der Transport- und Logistikbranche: Erfassung von Transportbedürfnissen der Kund:innen; Beratung der Kund:innen bei der Auswahl von Verkehrsträgern; Bearbeitung von Frachtaufträgen; Abrechnung von Frachtaufträgen und Ermittlung des Erfolgs dieser Aufträge; …
  2. Welche Auswirkungen haben die identifizierten beruflichen Handlungssituationen auf ein bestimmtes Ziel einer nachhaltigen Entwicklung? Welche Auswirkungen hat ein bestimmtes Ziel einer nachhaltigen Entwicklung auf die identifizierten beruflichen Handlungssituationen? Inwiefern wird dadurch die Gestaltung eines sozial gerechten Zusammenlebens aller innerhalb der ökologischen Grenzen der Erde beeinflusst – sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft? Exemplarische Schnittpunkte der beruflichen Handlungssituationen mit einzelnen SDGs2: – Die berufliche Handlungssituation «Beratung der Auftraggeber:innen bei der Auswahl der Verkehrsträger» hat Auswirkungen auf das Ziel «Massnahmen zum Klimaschutz», weil die Wahl eines Verkehrsträgers oder einer Kombination verschiedener Verkehrsträger die CO₂-Emissionen einer Transport- und Logistikdienstleistung beeinflussen. – Die berufliche Handlungssituation «Einholen von Angeboten» hat Auswirkungen auf die Ziele «Nachhaltige/r Konsum und Produktion» sowie «Massnahmen zum Klimaschutz», weil bei der Vergabe von Aufträgen neben quantitativen, rein ökonomischen Kriterien des Angebotsvergleichs auch qualitative Kriterien, wie z.B. die Senkung der CO₂-Emissionen oder die Ressourcenschonung bei der Erbringung der Transport- und Logistikdienstleistung, berücksichtigt werden könnten.
  3.  Welche Inhalte lassen sich aus den Schnittpunkten bilden? Aus den exemplarisch genannten Schnittpunkten könnten sich beispielsweise folgende Inhalte3 als Basis einer nachhaltigen Unterrichtsgestaltung ergeben (Holst & Hantke, 2023, S. 56): – Analyse des Dienstleistungsportfolios des eigenen Unternehmens im Hinblick auf das Angebot verschiedener Verkehrsträger und ihrer CO₂- und Feinstaubemissionen. – Berechnung des CO₂-Fussabdrucks von Dienstleistungen des eigenen Unternehmens und Entwicklung von Massnahmen, um diesen zu verringern. – Auseinandersetzung mit Vor- und Nachteilen verschiedener Verkehrsträger im Hinblick auf CO₂- und Feinstaubemissionen.
  4. Welche Art von Lehr-Lern-Arrangements können wie auf Basis der Inhalte einer BBNE entwickelt werden? Bei der Beantwortung dieser Frage geht es makrodidaktisch auch um die explizite oder implizite Einlösung didaktischer Prinzipien. Abbildung 2 fasst die Prinzipien zusammen, die bei der Entwicklung von Lehr-Lern-Arrangements einer BBNE berücksichtigt werden sollten.
  5. Welche didaktisch begründeten Schwerpunkte können oder sollten dabei gesetzt werden? Mit Blick auf die Realisierung von Bildung im Kontext von Nachhaltigkeit ist folgender Leitsatz zur Beantwortung dieser Frage hilfreich: «Nicht alles auf einmal, aber insgesamt ausgewogen» (Holst & Hantke, 2023, S. 63). So sollen und können beispielsweise nicht in jeder Unterrichtseinheit alle Nachhaltigkeitsziele in den Blick genommen werden, jedoch im «gesamten Verlauf des Ausbildungsgangs ausgewogen thematisiert werden und nicht einzelne – im Sinne des ‹Rosinenpickens› – durchgängig unberücksichtigt bleiben» (ebd.). Ausserdem sollte sich der Unterricht in der Grundausrichtung an der Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden orientieren und daher methodisch so arrangiert werden, dass die Lernenden «auf den Umgang mit Zielkonflikten im (beruflichen) Alltag vorbereitet und darin bestärkt werden, diese Lernerfahrungen auf ihre (zukünftigen) beruflichen Situationen zu übertragen» (ebd.). Menschen können im Sinne einer derartig ausgestalteten BBNE zu aktiven Bürger:innen werden, die in der Lage sind, ihre eigene Realität zu verändern und für eine gerechtere Gesellschaft einzutreten (Freire, 1972), ohne einem vordefinierten Zweck zu dienen.

Ausblick

Dieses kurz skizzierte mögliche didaktische Vorgehen zur Realisierung einer BBNE bietet eine exemplarische Antwort auf die Frage, wie in Berufsbildungsprozessen Nachhaltigkeit als normativer Lerngegenstand zur Förderung beruflicher Mündigkeit aufgegriffen werden kann. So kann Lernenden im Rahmen der Realisierung einer BBNE «das Recht auf eine neutrale und unabhängige politische Meinungsbildung» (Singer-Brodowski, 2016, S. 14) gewährt werden. Dieses Recht dient als Grundlage zur Ausbildung eines eigenständigen und selbstbestimmten Handelns (nicht nur) im beruflichen Kontext (Hantke, 2021; Tafner et al., 2022) und kann letztlich auch als eine Gelingensbedingung der Nachhaltigkeitstransformation angesehen werden. Normativ-moralische Handlungsaufforderungen können – empirisch nachgewiesen – zu einer Abwehrhaltung bei Lernenden führen (Wagener, 2019), was den Prozess der Nachhaltigkeitstransformation letztlich konterkarieren könnte, da involvierte und partizipierende Menschen als Voraussetzung dieses Prozesses gelten – nicht nur, aber auch im Rahmen des Berufshandeln als massgebliches, alltägliches Handlungsfeld (Melzig & Weber, 2020).

Sowohl in der dualen und schulischen Berufsbildung als auch der beruflichen Weiterbildung ist insbesondere das aus- und weiterbildende Personal gefragt, normative Ziele bei der Ausgestaltung der konkreten didaktischen Umsetzung offenzulegen und Instrumentalisierungstendenzen zu umgehen. Dafür ist es im Sinne des pädagogischen Doppeldeckers (Geißler & Rotering-Steinberg, 1985) notwendig, Aus- und Weiterbildungspersonal sowohl in Bezug auf Inhalte als auch in Bezug auf Methoden zu schulen. Dies impliziert die Notwendigkeit, die jeweiligen Prozesse selbst zu durchleben, um sie im Anschluss mit den eigenen Teilnehmenden in beruflichen Settings umsetzen zu können (Reißland et al., 2024, S. 204).

  1. Die Berufsbildung umfasst duale Berufsausbildungsgänge, schulische voll- und teilqualifizierende berufliche Bildungsgänge sowie die berufliche Weiterbildung (Kutt et al., 2016, S. 379). Die berufliche Weiterbildung ist im Gegensatz zur betrieblichen Weiterbildung nicht einzelbetrieblich angelegt, sondern «längerfristig gestaltet und zielt vollständig oder teilweise auf einen anerkannten beruflichen Weiterbildungsabschluss» (Frommberger, 2016, S. 26), meist durch eine berufliche Fortbildung oder Umschulung.
  2. Die SDGs könnten dazu führen, dass nur einfach umsetzbare Ziele verfolgt werden, ohne Spannungsfelder zu provozieren. Die Leitfragen unterstützen dabei, sich auch mit herausfordernden Zielen auseinanderzusetzen (Holst & Hantke, 2023, S. 53).
  3. Die exemplarisch aufgeführten Inhalte verdeutlichen, dass sich zwischen konkretem Berufshandeln und Nachhaltigkeit Zielkonflikte oder Widersprüche ergeben können. Werden beispielsweise «ökologische und soziale Aspekte berücksichtigt, kann dies zu höheren individuellen Kosten für die Kund:innen führen, während gleichzeitig die Kosten für die Allgemeinheit sinken» (Holst & Hantke, 2023, S. 53). Der individuelle Umgang mit derartigen Widersprüchen ist im Rahmen von nachhaltigkeitsorientierten Lehr-Lern-Prozessen bildungsförderlich, da er unter anderem dazu führt, der oben beschriebenen Instrumentalisierung entgegenzuwirken.

Literatur

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