Weiterbildungsbedarfe aus betrieblicher Perspektive – pragmatischer Umgang mit einem komplexen Gegenstand
Die in der einschlägigen Literatur betonte Bedeutsamkeit der strategischen Bildungsbedarfsermittlung für eine sinnvolle Weiterbildungsplanung findet kaum Niederschlag in der betrieblichen Praxis von Klein- und Kleinstunternehmen. Dennoch können auch Betriebe dieser Grössenklasse auf verschiedene (implizite) Strategien und Verfahren verweisen, um Bedarfe abzuschätzen und zu identifizieren. Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, Bildungsbedarf und dessen Ermittlung für den betrieblichen Kontext zunächst konzeptionell zu fassen, bevor anhand der Sekundäranalyse qualitativer Daten entsprechende Praktiken zur Bestimmung von Weiterbildungsbedarfen in Klein- und Kleinstunternehmen erörtert werden.
Bedarfe in der betrieblichen Weiterbildung und die liebe Not mit dem Informationsdefizit
Es ist eine weder neue noch überraschende Erkenntnis, dass die Wirkungen und Effekte betrieblicher Weiterbildung nicht exakt bestimmt werden können. Entsprechende Verfahren wie Bildungsmanagement und Bildungscontrolling fokussieren darum häufig leichter messbare Variablen, wie die (in-)direkten Weiterbildungskosten (Käpplinger 2010, S. 10), anstatt Bedarfe, Wirkungen, Nutzen, Outcome usw. zu messen. Dennoch sind mit betrieblicher Weiterbildung zahlreiche verschiedene Funktionszuschreibungen verbunden. Abhängig von den jeweiligen Akteurinnen und Akteuren (von Hippel und Röbel 2016) umfassen diese neben der Primärfunktion als Investition zahlreiche weitere Nebenfunktionen (Motivation, Anpassung, Flexibilisierung, Akquise und Image oder Entwicklung etc.) (Pawlowsky und Bäumer 1996, S. 31).
Für Betriebe bieten sich verschiedene Strategien an, mit diesem Informationsdefizit umzugehen. Nehmen wir eine betriebliche Handlungslogik an, die sich prinzipiell indifferent zur betrieblichen Weiterbildung verhält, d.h. Weiterbildung kann zur Lösung von Problemen, Herausforderungen etc. Anwendung finden, muss aber nicht. Das hat zur Folge, dass Weiterbildung, wie alle anderen (funktionalen) Merkmale des Betriebs (Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Mitglieder, ebenso wie Tätigkeiten, Zwecke, Hierarchien etc.), regelmässig zur Disposition steht (Harney 1998, S. 128 f.; Luhmann 2011). Folglich bieten sich auf den ersten Blick drei Verfahrensweisen an, mit dem Informationsdefizit betrieblicher Weiterbildung umzugehen: Sie erstens zu unterlassen, zweitens Anstrengungen und Investitionen in die Messung der Wirkungen und Effekte zu unternehmen oder drittens Bedarfe genauer zu ermitteln, verbunden mit der Annahme, hierdurch könnten Weiterbildungsangebote zielgruppenspezifischer und «massgeschneiderter» (Büchter 1999, S. 12) geplant und arrangiert werden. Im Folgenden wird erörtert, welchen Herausforderungen Bedarfsermittlung gegenübersteht und wie ihnen in der betrieblichen Praxis begegnet wird.
Bedarfsermittlung als Prototyp kognitiver Dissonanz
Die mit Bedarfsbestimmung verbundenen Erwartungen reichen von ihrer Funktion im Rahmen einer sinnvollen betrieblichen Programmplanung (Faulstich 1998, S. 105; Röbel 2017, S. 27) über die Bearbeitung aktueller und zukünftiger betrieblicher Herausforderungen (Hormel und Geldermann 2010, S. 21 ff.) bis hin zu einer Allokationsfunktion (hier verstanden als optimale Verteilung von Ressourcen), wenn es um die Vermeidung von Fehlinvestitionen und Fehlqualifikationen (Büchter 1999, S. 12) geht. Wird Bedarf allerdings nicht als Element eines linearen Pfads gedacht (i. S. v. Bedarfserfassung führt zu Programm, führt zu Weiterbildung, führt zu Effekt), so erfüllt er aus neoinstitutionalistischer Perspektive auch eine Legitimationsfunktion: In diesem Sinne erteilt Bedarf den betrieblichen Weiterbildungsentscheidungen ihre Berechtigung und legitimiert sie hierdurch. Im Widerspruch dazu steht, dass Bedarfsermittlung in Unternehmen in Deutschland nicht einmal in einem Viertel aller befragten Betriebe regelmässiger Bestandteil der Weiterbildungsplanung ist und in Kleinunternehmen, auf die der vorliegende Beitrag einen besonderen Fokus setzt, besonders selten kontinuierlich durchgeführt wird (Statistisches Bundesamt 2017, S. 56). Dagegen geben immerhin knapp 60% der befragten schweizerischen Kleinunternehmen an, dass der zukünftige Qualifikationsbedarf regelmässig ermittelt wird. Entsprechend wenige der weiterbildungsinaktiven schweizerischen Unternehmen sehen Schwierigkeiten bei der Einschätzung des Weiterbildungsbedarfs als Hinderungsgründe, weiterbildungsaktiv zu sein (Bundesamt für Statistik 2018, S. 21 ff.).1 Für das Missverhältnis zwischen den umfassenden Erwartungen, die an die Bedarfsermittlung gestellt werden, und der eher zurückhaltenden systematischen Umsetzung derselben drängen sich zwei Erklärungen auf: Entweder ist die Bedarfsermittlung mit besonderen Schwierigkeiten verbunden und wird deshalb eher selten praktiziert, oder die Bedarfsermittlung wird in der wissenschaftlichen Literatur überbetont und ihr positiver Effekt wird von Entscheidungsträgerinnen und -trägern betrieblicher Weiterbildungspraxis angezweifelt. Beide Thesen sind gegenseitig nicht exklusiv. Erstgenannter wird im folgenden Abschnitt mithilfe einer konzeptionellen Diskussion von betrieblichem Weiterbildungsbedarf und den damit verbundenen Herausforderungen nachgegangen, für die Bearbeitung der zweiten These können Daten aus qualitativen Interviews herangezogen werden.
Unschärfe und Komplexität als Herausforderung betrieblicher Bedarfsermittlung
Als das Phantom der betrieblichen Weiterbildungsplanung bezeichnete Faulstich (1998, S. 105) den betrieblichen Weiterbildungsbedarf. Einerseits gilt seine Ermittlung als unerlässlich für eine sinnhafte Planung, zugleich liegt Bedarf nicht einfach vor und insbesondere Subtraktionsmodelle der Art Soll–Ist = Bedarf können über den Mangel messbarer Kriterien nicht hinwegtäuschen (ebd., S. 114). Bedarf lediglich als Reaktion auf neue Technik, Produkte oder andere Anforderungen zu betrachten, mündet überdies in einer «innovationsarmen Anpassungsstrategie» (Faulstich 1998, S. 106) und priorisiert damit Organisation und Technik gegenüber dem Personal (ebd.). Diejenigen Probleme, die es mithilfe von Weiterbildungen zu lösen gelte, hätten über die Dauer der Bedarfserhebung und der Angebotserstellung ein erhebliches Zeitpotenzial, sich zu manifestieren (Büchter 1999, S. 12) und der betrieblichen Weiterbildung käme lediglich die Aufgabe zuteil, den an das Unternehmen gestellten Anforderungen mit grossem Abstand hinterherzulaufen. Zudem kann nicht einfach erwartet werden, dass Bedarf von Betrieben überhaupt offen kommuniziert wird. So konstatiert Harney: «Die allgemeine gesellschaftliche Normalität der Weiterbildung, die von der Wertschätzung lernoffener Bescheidenheit und Steigerungsbereitschaft lebt, muss nicht auf den konkreten Fall zutreffen» (Harney 1998, S. 154). Mithilfe der «Pflege von Organisationsfassaden» (Kühl 2011, S. 138) reagieren Organisationen auf an sie gerichtete Erwartungen, indem sie ihrer organisationalen Umwelt ein ausgewähltes Bild von sich selbst präsentieren. Dazu gehört nicht unbedingt, mit Weiterbildungsbedarfen und Defiziten offen zu kokettieren. Stattdessen aber auf Angebotsorientierung zu setzen und damit den Fokus auf die nachgefragten Angebote zu legen, erweist sich rasch als Trugschluss, wenn allein die Nachfrage eines Angebots als Bedarfsdeckung fehlinterpretiert wird (Faulstich 1998, S. 106). Aber auch die Differenzierung betrieblicher Bedarfe und individueller Bedürfnisse (Arnold 1995, 148 ff.; Hormel und Geldermann 2010, S. 17; Pawlowsky und Bäumer 1996, S. 103) hat eher analytischen als praktischen Wert. Denn tatsächlich sind auch betriebliche Bedarfe von den Interessen verschiedener Akteurinnen und Akteuren hinterlegt (Gieseke 2019, S. 30) und die Perspektive vermeintlich objektiver betrieblicher Bedarfe gegenüber den subjektiven Bedürfnissen der Mitarbeitenden reproduziert längst widerlegte Rationalitätsideale betrieblicher Entscheidungen und weist zugleich Beschäftigten unberechtigt die Rolle zu, betriebliche Anforderungen den eigenen Vorlieben hintenanzustellen.
In der Konsequenz bieten sich Verfahren an, die einerseits die kommunikative Aushandlung von Weiterbildungsbedarf durch die beteiligten Personen in den Blick nehmen und möglichst partizipativ und multiperspektivisch sind (Büchter 1999, S. 13; Gieseke 2019, S. 29; Pawlowsky und Bäumer 1996, S. 107; Röbel 2017, S. 36), die andererseits aber nicht defizitorientiert Bedarfe abwarten, sondern sich stattdessen mit der Entwicklung von Bedarfen und den involvierten Personen- und Interessengruppen auseinandersetzen (Faulstich 1998, S. 109). Zwei wesentliche Vorteile sind mit dieser Perspektive verbunden: Erstens besteht die Grundlage der Programmentwicklung nicht mehr nur aus Anforderungen, die bereits bestehen und ggfs. erst mit hoher zeitlicher Differenz bearbeitet werden können. Zweitens ist es ein Abschied von der naiven Vorstellung, Bedarf läge bereit und warte nur darauf, identifiziert und bearbeitet zu werden. Ein Verständnis darüber, wie sich der betriebliche Weiterbildungsbedarf auf den Ebenen der Mitarbeitenden, der Unternehmensleitungen, der Intermediäre (Verbände, Gewerkschaften etc.), aber auch des Weiterbildungspersonals, des Gesetzgebers bis hin zur Ebene der Öffentlichkeit (Faulstich 1998, S. 106; Gieseke 2019, S. 29) entwickelt und Problemlagen als Bildungsbedarf interpretiert werden, scheint eine relevante Bedingung sinnstiftender und proaktiver Programmplanung zu sein. Ein entsprechendes Regelwerk zur Bedarfsermittlung findet sich in konzentrierter Form bei Büchter (1999) sowie etwas ausführlicher und fokussiert auf die Bedarfsentwicklung bei Faulstich (1998).
Die Genese und Ermittlung des betrieblichen Weiterbildungsbedarfs ist, so konnte gezeigt werden, deutlich voraussetzungsvoller, als es auf den ersten Blick scheint. Dies stützt die erste der o. g. Thesen, wonach die verhältnismässig geringe Verbreitung systematischer Bedarfsermittlung mit einer besonderen Komplexität des Gegenstands zu begründen ist. Welche Rolle dagegen der Bedarf in betrieblichen Weiterbildungsentscheidungen spielt, soll im Folgenden mit Blick auf eine qualitative Interviewstudie dargestellt werden.
Empirische Innensichten zum Umgang mit Weiterbildungsbedarf in Klein- und Kleinstunternehmen
Auf der Datengrundlage von 17 qualitativen Interviews deutscher Klein- und Kleinstunternehmen aus 16 verschiedenen Wirtschaftszweigen, die im Rahmen einer Forschungsarbeit zur Entwicklung einer Typologie von Weiterbildungsentscheidungen (erscheint voraussichtlich im Jahr 2022) erhoben wurden, wurde in Anlehnung an die zusammenfassende Inhaltsanalyse (Mayring 2010, S. 67 ff.) eine Sekundäranalyse durchgeführt. Die Analyse folgte der Frage, wie die befragten Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer Weiterbildungsbedarf interpretieren, identifizieren und bearbeiten, und widmete sich insbesondere den Relevanzsetzungen der Befragten, d.h. es wurden im Rahmen der Inhaltsanalyse keine Kategorien angelegt, sondern relevante Textpassagen zu Clustern gebündelt. Das Sample ist heterogen sowohl in Bezug auf die Branche (bspw. Friseursalon, Fahrschule, Kino, Versicherung, Restaurant, Musikverlag, Agrargenossenschaft, arbeitsmedizinisches Zentrum, Spezialdruckerei für Chipkarten, Steinbruch u.a.) sowie bzgl. formaler Qualifikationen der Interviewpartnerinnen und -partner, Lebensalter, Unternehmenssitz (Gross-, Mittel-, Kleinstadt, Landgemeinde) und weist eine ausgeglichene Verteilung der Geschlechter auf. Die einzelnen Interviews dienen dabei ausdrücklich nicht als Repräsentanten ihrer jeweiligen Branche. Ziel war es stattdessen, mithilfe grösstmöglicher Heterogenität ein vielseitiges Bild betrieblicher Weiterbildung zu erhalten. Das mehr als 16 Stunden umfassende Interviewmaterial bzw. die mehr als 400 Seiten lange Transkription wurde zunächst mithilfe einer lexikalischen Suche eingegrenzt2 und die Auswertung auf entsprechende Abschnitte beschränkt. Anschliessend wurden inhaltstragende Transkriptstellen paraphrasiert, abstrahiert und entsprechend inhaltlicher Ähnlichkeit zu Clustern zusammengefasst.
Umfassende strategische Bedarfsanalysen sind von Klein- und Kleinstunternehmen ohnehin nicht zu erwarten und spielen in den befragten Betrieben keine Rolle. Aber dennoch wird dem Weiterbildungsbedarf relevante Bedeutung zugeschrieben und es konnten sechs voneinander differenzierbare Haltungen zum betrieblichen Weiterbildungsbedarf und dessen Ermittlung identifiziert werden:
- Reflexiv-prognostische Perspektive
- Kommunikativ-inklusive Perspektive
- Reaktive Perspektive
- Defizitorientierung
- Kundenorientierung
- Angebotsorientierung als Alternative
Reflexiv-prognostische Perspektive
Die befragten Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer eruieren Bildungsbedarfe nicht als Reaktion auf an sie herangetragene Problemlagen oder Defizite, sondern versuchen, zukünftige Entwicklungen und Trends zu antizipieren. Zugleich wird reflektiert, inwiefern das Unternehmen in der jüngeren Vergangenheit in der Lage war, auf Entwicklungen adäquat zu reagieren:
«[…] in den Skills quasi, die ich mir angeeignet habe, bin ich sehr reflektiert in meiner Arbeit und meiner Strategieentwicklung. Das heisst, ich habe zweimal im Jahr eine Klausur […]. Da bin ich nur im Büro und räume auf im Kopf und sonst irgendwie […]. Und für mich arbeite ich da ganz viel, was das angeht, mit Learnings und den: Wie sollen sich Dinge weiterentwickeln?» (IP 10 – Musikverlag).
Prognosen beschränken sich dabei nicht nur auf die Erwartung bestimmter Trends und deren Weiterentwicklung, sondern ggfs. werden gezielt internationale Märkte beobachtet, denen für die jeweilige Branche eine Vorreiterrolle zugeschrieben wird. So berichtet IP 10, dass die Analyse des südkoreanischen, chinesischen oder indischen Musikmarkts, der dortigen Verwertungs- und Abrechnungssysteme etc. Prädiktoren für die hiesige Entwicklung und damit ein Blick in die Zukunft sein können. Von allen ermittelten Perspektiven auf Weiterbildungsbedarfe ist die reflexiv-prognostische die umfassendste und aufwändigste. Die so ermittelten Bedarfe sind unsicher und spekulativ. Dennoch folgen die Einschätzungen ausgewiesener Expertise über die Branche, können begründet werden und besitzen messbare Kriterien.
Kommunikativ-inklusive Perspektive
Hierbei liegt der Fokus auf der möglichst umfassenden Einbindung von Mitarbeitenden, Auftraggebenden, Auftragnehmenden, Mitwettbewerberinnen und -wettbewerbern (im Rahmen von Unternehmensstammtischen oder Verbänden) oder Weiterbildungsdienstleistenden. Die befragten Personen suchen den direkten Kontakt, formulieren Bedarfe nach Möglichkeit in Zusammenarbeit und validieren sie im Rahmen informeller Gespräche.
Reaktive Perspektive
Weiterbildungsbedarfe werden aus dieser Perspektive als Reaktion auf an das Unternehmen gestellte Herausforderungen formuliert. Die genannten Problemlagen sind heterogen und können sich auf das Personal (Bedarfe infolge von Personalabbau oder als Resultat von Neueinstellung), auf Umbaumassnahmen, IT-Sicherheit und Hackerangriffe, Gesetzgebungen, nicht zuletzt auf branchenspezifische Änderungen u.v.m. beziehen. Ohne konkrete An- und Herausforderungen können in dieser Perspektive keine Weiterbildungsbedarfe formuliert werden, wodurch sich Problemlagen verstetigen können und strategische (Personal-)Entwicklung erschwert wird.
Defizitorientierung
Ähnlich wie die vorgenannte Perspektive ist auch die Defizitorientierung reaktiv, diese beschränkt die Ermittlung von Bildungsbedarfen aber auf wahrgenommene Defizite bei den Mitarbeitenden. Hierunter fallen Qualitätsmängel, die den Kompetenzen des Personals zugeschrieben werden, ebenso wie wahrgenommene Unzufriedenheit oder vermeintliche Ahnungslosigkeit gegenüber verschiedensten tätigkeitsbezogenen Themen. Eine defizitorientierte Bedarfsermittlung schränkt den Blick auf Weiterbildungsbedarfe in besonderer Weise ein, d.h. sie vernachlässigt alternative Deutungen in erheblichem Masse und verhindert proaktive Personalentwicklung.
Kundenorientierung
Die Ermittlung von Weiterbildungsbedarfen ist auch unter besonderer Berücksichtigung der Auftraggeberinnen und Auftraggeber sowie der Kundinnen und Kunden möglich. Dabei geht es weniger darum, konkrete Anfragen oder Aufträge abzuwarten und darauf mit entsprechenden Weiterbildungsmassnahmen zu reagieren, sondern regelmässig deren Tätigkeitsfelder zu beobachten und etwaige Bedarfe abzuleiten: «Also wir betreuen zum Beispiel Kliniken und wenn dort geröntgt wird, wissen wir ja, dass dort der Bedarf ist für eine Strahlenschutzuntersuchung» (IP 03 – Arbeitsmedizin). Eine allgemeinere Perspektive auf Kundinnen und Kunden versucht, generell möglichst zeitaktuelle Dienstleistungen anzubieten, und antizipiert deren Erwartungen, woraus etwaige Weiterbildungsbedarfe abgeleitet werden. Der ausgeprägte Fokus auf Kundinnen und Kunden war im untersuchten Sample bei Dienstleistungsunternehmen am stärksten ausgeprägt.
Angebotsorientierung als Alternative
Angebotsorientierung wird unterschiedlich beurteilt: Wenn es um die Planung betrieblicher Weiterbildung und den Wunsch geht, dass Angebote zielgruppenspezifisch sind und konkrete Bedarfe adressiert werden sollen, wird die Bedarfsorientierung gegenüber der Angebotsorientierung favorisiert (Faulstich 1998, S. 106). Angebotsorientierung wird aber auch als proaktive Vorgehensweise der Weiterbildungsplanung interpretiert, die nicht erst auf Bedarfe (bspw. Qualifikationslücken) wartet und damit lediglich reaktiv agieren würde (Gieseke 2008, S. 90). Demzufolge ist Angebotsorientierung nicht wie bspw. die o. g. Kundenorientierung, Defizitorientierung usw. eine spezifische Perspektive auf Bedarfsermittlung. Dennoch spielt sie in der Planung betrieblicher Weiterbildung im untersuchten Sample eine interessante Rolle im Sinne einer Alternative zur Bedarfsorientierung und soll deshalb nicht übergangen werden.
Angebotsorientierung findet sich in den untersuchten Unternehmen ausschliesslich in Fällen, bei denen Weiterbildungsverpflichtungen umgesetzt werden müssen. Hierzu gehören bspw. Fortbildungsverpflichtungen von Ärztinnen und Ärzten, Pflichtweiterbildungen zum Thema Erste Hilfe oder bspw. zum Datenschutz. Der zuweilen schlechte Ruf angebotsorientierter Weiterbildung wird in den Äusserungen der Interviewpartnerinnen und -partner nicht reproduziert. Vielmehr wird die Expertise von Berufsgenossenschaften oder Verbänden bei der Angebotsentwicklung betont und Qualität und Umfang der Fortbildungskataloge gelobt. Obwohl der oben formulierte Vorwurf, dass nachgefragte Angebote zu schnell als bedarfsdeckend fehlinterpretiert werden könnten, damit nicht widerlegt werden kann, sollten die mit Angebotsorientierung verbundenen Vorteile (bspw. Proaktivität und Ressourcenersparnisse) nicht übersehen werden. Darüber hinaus sollte den Anbieterinnen und Anbietern zugestanden werden, sich im Rahmen professioneller Programmentwicklung auf valide Daten, Expertise über die Branche und hinreichend Erfahrung zu stützen. Nicht zuletzt kann der Blick auf Angebote den Unternehmensleitungen Perspektiven eröffnen, die mit Fokus auf lediglich die direkte Unternehmensumwelt verborgen geblieben wären.
Bedarfsermittlung zwischen Komplexität und Pragmatismus
Die Komplexität von Bedarfen und deren Ermittlung im Rahmen der betrieblichen Weiterbildung ist eher Gegenstand wissenschaftlicher als betrieblicher Reflexionen. Im Kontext der betrieblichen Praxis der untersuchten Klein- und Kleinstunternehmen werden Bedarfe zwar sehr heterogen bearbeitet, aber mit insgesamt deutlich weniger Aufmerksamkeit bedacht, als es mit Blick auf die einschlägige Literatur und den damit verbundenen Zuschreibungen zu erwarten wäre. Die primäre Kompetenz der Betriebe ist nicht die Organisation von Weiterbildung, aber dennoch sind Bereitschaft und Engagement, betriebliche Weiterbildung anzubieten, hoch. Praktikable Supportstrukturen, die die Unternehmen bei strategischer Weiterbildungsplanung unterstützen und dabei v.a. die Bedarfe der Mitarbeitenden im Blick behalten, nehmen die limitierten Ressourcen insbesondere von Klein- und Kleinstunternehmen ernst und sollten Instrumente und Methoden bereitstellen, die pragmatisch, angemessen und umsetzbar sind (bspw. Büchter 1999). Die eruierten Strategien betrieblicher Bedarfsermittlung zeigen, dass Betriebe (implizite) Verfahren entwickelt haben und begründen können, zugleich aber Ausbaupotenzial besteht. Insbesondere die o. g. reaktive Perspektive sowie Defizitorientierung sollten den Betrieben Anlass sein, über kommunikativere und eher proaktive Verfahren zu reflektieren.
- Bei der Nutzung der Daten zu Ländervergleichen ist allerdings Vorsicht geboten: Die Daten des deutschen Statistischen Bundesamtes basieren auf den Länderdaten des CVTS (Continuing Vocational Training Survey), während die Daten des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik auf der nationalen Erhebung zur beruflichen Aus- und Weiterbildung in Unternehmen (SBW) beruhen.
- Es wurde die Analysesoftware MAXQDA genutzt. Für die lexikalische Suche wurden verschiedene Suchbegriffe genutzt: Bedarf*, Bedürfnis*, Anlass, Anlässe, erkenn* etc.
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Christian Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Erwachsenenbildung, Schwerpunkte berufliche Weiterbildung und komparative Bildungsforschung der TU Dresden. Kontakt: christian.mueller13@tu-dresden.de