23.05.2023
N°1 2023

Traditionelle Antworten der Erwachsenen-/Weiterbildung auf aktuelle Herausforderungen der Individualisierung

Der Beitrag befasst sich mit der Rolle und den potenziellen Beiträgen, die die Erwachsenen-/Weiterbildung im Kontext der Individualisierung leisten kann. Es wird anhand von adressatenbezogenen Weiterbildungsberatungen und dem didaktischen Leitprinzip der Teilnehmerorientierung erörtert, inwiefern diese Zugänge Antworten auf die Herausforderungen der Individualisierung für Organisationen der Erwachsenenbildung bereithalten. Hieran schliessen sich Fragen über notwendige organisationale Selbstvergewisserungen und Anforderungen an die Professionalität der Lehrenden an.

Einleitung

Mit der Individualisierung werden Prozesse beschrieben, bei denen sich die Lebensführung der Menschen aus traditionellen Strukturen und Gruppenzusammenhängen herauslöst, wodurch sich auch neue Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen (vgl. Beck 1986). Im Zuge dieses seit etwa Ende der 1950er Jahre fortsetzenden Prozesses steht auch die organisierte Erwachsenen-/Weiterbildung vor Herausforderungen. So wünschen sich Teilnehmer:innen sowohl räumlich, zeitlich als auch inhaltlich flexible Lehr-/Lernarrangements, die ihre jeweiligen Lebenskontexte und individuellen Lernbedarfe hinreichend berücksichtigen. Demgegenüber stehen traditionell eher angebotsorientierte Programm- und Angebotsplanungen von Organisationen der Erwachsenen-/Weiterbildung, die unter anderem an vorhandenen räumlichen Ressourcen, an den jeweiligen Einrichtungsprofilen und/oder dem Angebotsspektrum der Lehrenden orientiert sind. Ein Zugang der makrodidaktischen Programm- und Angebotsplanungen ist das Prinzip der Zielgruppenorientierung. Kern von Zielgruppenorientierung ist es, Adressat:innen mit Hilfe soziodemografischer Merkmale zu typisieren, um darauf bezogene Entscheidungen über Lernziele, Lernorte, Lernformen, Lernzeiten etc. zu treffen und adressatengerechte Angebote zu planen (Hippel et al. 2019, S. 86 f.). Anfang der 1990er Jahre wurde dieser makrodidaktische Ansatz in Frage gestellt. Aufgrund der Individualisierung könnten – so die Kritik – didaktische Entscheidungen auf Grundlage (re-)konstruierter, gesellschaftlicher Grossgruppe nicht mehr als hinreichend antizipierbar und damit auch nicht mehr als planbar betrachtet werden (vgl. Schiersmann 1992, S. 42). Auch wenn in der Folge hierauf Milieuansätze Antworten geben sollten (vgl. Tippelt und Barz 2001), sind diese weniger didaktisch als vielmehr betriebswirtschaftlich motiviert (vgl. Bremer 2010).

Vor dem Hintergrund dieser skizzierten Entwicklungen rücken sowohl grundlegende Fragen zur Rolle der Erwachsenen-/Weiterbildung im Kontext gesamtgesellschaftlicher Individualisierungsprozesse als auch Fragen des konkreten Umgangs mit deren Folgen für die institutionelle Bildungsarbeit mit Erwachsenen ins Zentrum. Ausgehend von der Überlegung, dass die Erwachsenen-/Weiterbildung sowohl Individualisierungstendenzen selbst befördert als auch ein Ort der reflexiven Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen sein kann, werden im vorliegenden Beitrag zunächst zwei Zugänge aufgegriffen: Es wird dargelegt, unter welchen Voraussetzungen Weiterbildungsberatungen Hilfestellungen im Hinblick auf sich individualisierenden Lehr-/Lernerwartungen der Adressat:innen vor Besuchen von Weiterbildungsveranstaltungen geben können. Anschliessend wird diskutiert, inwiefern das traditionelle, didaktische Leitprinzip der Teilnehmerorientierung Antworten hinsichtlich des Umgangs mit sich immer weiter individualisierenden Ansprüchen bei dem Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen bereithält. Abgeschlossen wird der Beitrag mit weiterführenden Überlegungen zu grundlegenden Fragen auf der Ebene der Lehrkulturen von Weiterbildungsorganisationen einerseits und den professionellen Anforderungen der Lehrenden andererseits.

Rolle der Erwachsenen-/Weiterbildung im Kontext der Individualisierung

Der Individualisierung wohnt zum einen ein emanzipatorisches Moment inne, da den Menschen neue Wahlmöglichkeiten eröffnet werden, die auch die Gestaltung von Bildungs- und Lebensverläufen einschliessen. Zum anderen bedeuten Prozesse der Individualisierung jedoch nicht nur neue Freiheiten, sondern Menschen sind auch zunehmend immer mehr Wahl- und Entscheidungszwängen ausgesetzt. Bildungs-, Berufs- und Lebensentscheidungen sind nicht nur individuell zu fällen, sondern auch gegenüber sich selbst und gegenüber anderen zu verantworten und zu rechtfertigen. Zudem sind Prozesse der Individualisierung aufgrund der Herauslösung aus traditionellen Formen der Vergemeinschaftung häufig auch mit Sicherheitsverlusten und Vereinzelungs- bis hin zu Vereinsamungstendenzen verbunden (vgl. Beck 1986, S. 115 ff.). Vor diesem Hintergrund kann der Erwachsenen-/Weiterbildung sowohl die Rolle einer «Triebkraft» (Kade 1989, S. 796) als auch die einer Reflexionsinstanz im Kontext der Individualisierung zugeschrieben werden. So werden auf der einen Seite durch die Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen Kompetenzen, (non-)formale Qualifikationen erworben, die in einer sich immer weiter individualisierenden Gesellschaft erst neue Handlungs- und Entscheidungsspielräume eröffnen können. Auf der anderen Seite sollte die institutionalisierte Erwachsenen-/Weiterbildung auch weiterhin ein Ort sein, an dem Gemeinschaft erfahrbar wird, an dem sich Menschen aus unterschiedlichen Lebenslagen und mit heterogenen Bildungshintergründen zeitlich begrenzt begegnen. Veranstaltungen der Erwachsenen-/Weiterbildung bieten nämlich die Möglichkeit, dass man sich «autonom in eine institutionell bereitgestellte Gemeinschaft hineinbegibt und sich nach individuellem Gutdünken auch autonom daraus wieder löst. Erwachsenenbildung wird hier zu einer Art «Regressionsepisode» (Kade 1989, S. 789). (Lern-)Erfahrungen in diesen Veranstaltungen ermöglichen es zudem, nicht nur im Sinne Rogers mit anderen Personen in Kontakt zu kommen und hierbei Selbstwirksamkeit zu erfahren, sondern auch mit Perspektiven anderer Personen konfrontiert zu werden. Dies ist vor dem Hintergrund konstruktivistischer Lernansätze insofern relevant, als Ausgangspunkte für Lernprozesse letztendlich immer nur Irritationen sein können. Ausserdem kann dadurch den Gefahren einseitiger Informierung und selektiver Wissensaneignung aufgrund medialer Filterblasen begegnet werden. Und schliesslich ist die Individualisierung als gesellschaftliches Phänomen selbst zum Lerngegenstand zu machen. So sollte Erwachsenenbildung auch ein Ort sein, an dem Individualisierungsprozesse im Zusammenspiel mit den parallel oder den sich bedingenden Entwicklungen wie beispielsweise der Digitalisierung, der Subjektivierung oder den Tendenzen der Entdemokratisierung zu reflektieren sind. Hierbei bleibt die Förderung von Biografizität als (berufs-)biografische Gestaltungskompetenz gerade vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklungen zentral (vgl. Alheit 2003). Erst wenn sich Menschen nicht als Spielbälle, sondern als (Mit-)Gestalter:innen von gesellschaftlichen Entwicklungen begreifen und erleben, können Prozesse der Individualisierung eher als Chance und weniger als belastende Herausforderung empfunden werden.

Neben diesen übergreifenden Perspektiven der Rolle der Erwachsenen-/Weiterbildung sehen sich Weiterbildungseinrichtungen aber auch mit der Frage konfrontiert, wie sie selbst den Anforderungen der Individualisierung im Hinblick auf ihre Angebotsstrukturen begegnen können. Eine potenzielle Antwort auf diese Frage können Angebote der Weiterbildungsberatung geben.

Weiterbildungsberatung als Antwort auf die Individualisierung vor dem Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen

Um eine grösstmögliche Passung zwischen den sich individualisierenden Lernerwartungen, -bedürfnissen und -bedarfen der Adressat:innen und den vielfältigen Angeboten der institutionalisierten Erwachsenen-/Weiterbildung herzustellen, leisten Weiterbildungsberatungen wichtige Beiträge. Bei den Angeboten der Weiterbildungsberatung kann zwischen einrichtungsübergreifenden und einrichtungsgebundenen Beratungsangeboten unterschieden werden. Einrichtungsübergreifende Weiterbildungsberatungen geben den ratsuchenden Adressat:innen neutrale Hilfestellungen, sich auf dem heterogenen und zuweilen auch unübersichtlichen Weiterbildungsmarkt zurechtzufinden. Sie unterstützen dabei, Weiterbildungsbedarfe und Weiterbildungsziele zu ermitteln, entsprechende (regionale) Weiterbildungsangebote zu finden und über Finanzierungsmöglichkeiten zu informieren. Hiermit leisten sie Beiträge zur Verbesserung von Entscheidungskompetenz im Hinblick auf Bildungsfragen und zur Erhöhung der Weiterbildungsbereitschaft im Kontext lebenslanger Lernprozesse (vgl. Stanik 2015, S. 33 f.). Einrichtungsgebundene Weiterbildungsberatungen haben hingegen eine «Gelenkstellfunktion» (Mader 1999, S. 318), um zwischen den Angeboten von Weiterbildungseinrichtungen und den Nachfragen der ratsuchenden Adressat:innen zu vermitteln. Als eines den Veranstaltungsbesuchen vorgeschaltetes Angebot unterstützen sie ratsuchende Personen dabei, eine Passung zwischen individuellen Lernvoraussetzungen, Lernzielen und Lerngewohnheiten und den angebotenen Veranstaltungen herzustellen. Mit diesen Beratungsangeboten können Frustrationen, die zuweilen in Kursabbrüchen münden können, verhindert werden. Die Beratungen sind zudem Teil der Öffentlichkeitsarbeit, können aber auch didaktisch für eine stärker nachfrageorientierte Programmplanung genutzt werden, wenn die in den Beratungen geäusserten Bedarfe und Erwartungen in zukünftige Planungsprozesse einfliessen. Damit die Beratungen Hilfestellungen bei angebotsstrukturell versuchten Problemen leisten können, ist es jedoch notwendig, dass die in den Beratungen geäusserten Lernziele oder Erwartungen bezüglich der Lerninhalte, Lernorte, Kurszeiten etc. dokumentiert und systematisch mit den vorgehaltenen Angebotsstrukturen abgeglichen werden. Mikrodidaktisch können Weiterbildungsberatungen zudem dazu beitragen, dass Teilnehmer:innen mit ähnlichen Vorkenntnissen, Erwartungen und/oder Lerngewohnheiten die Weiterbildungsveranstaltungen besuchen. Zur Erreichung dieser Ziele dürfen in den Beratungen nicht die institutionellen Interessen der Weiterbildungsanbieter (z.B. Auslastung der Kurse), sondern die Lern- und Bildungsanliegen der ratsuchenden Adressat:innen im Mittelpunkt stehen (vgl. Stanik 2015, S. 30 f.).

Eine zentrale Herausforderung bleibt in diesem Zusammenhang, Adressat:innen für Beratungen über Weiterbildungsfragen zu gewinnen. Hier könnten mit den in der Corona-Krise etablierten digitalen Beratungsangeboten (Mails-, Chat- und Videoberatungen) aufgrund ihrer örtlichen und/oder zeitlichen Ungebundenheit neue Personengruppen erreicht werden. So sind digitale Beratungen niederschwelliger, da Ratsuchende nicht eine Weiterbildungsberatungsstelle aufsuchen müssen. Auch haben Ratsuchende in digitalen Formaten eine grössere Situationskontrolle, da sie sich keiner ko-präsenten Interaktion aussetzen müssen (vgl. Stanik & Maier-Gutheil 2020).

Weiterbildungsberatungen unabhängig davon, ob diese einrichtungsgebunden, einrichtungsübergreifend, face-to-face oder in einem Online-Format durchgeführt werden, müssen jedoch über eine blosse Informationsvermittlung hinausgehen und die jeweiligen situativen und/oder biografisch bedingten Lernanlässe, Lernerwartungen, Lernerfahrungen, Lernkompetenzen der ratsuchenden Personen zu ihren Gegenständen machen. Auch ist bei einrichtungsgebundenen Beratungen eine grösstmögliche Transparenz über Lerninhalte, notwendige Lernvoraussetzungen, organisationale Rahmenbedingungen etc. herzustellen. Dies bedeutet dann auch, ratsuchende Adressat:innen bei keiner Passung an andere Weiterbildungseinrichtungen zu verweisen oder ihnen Möglichkeiten informellen Lernens aufzuzeigen. Erst vor diesem Hintergrund können Weiterbildungsberatungen die ihnen zugeschriebene Gelenkstellfunktion auch jenseits institutioneller Interessen erfüllen und wichtige Beiträge im Umgang mit den Herausforderungen der Individualisierung leisten.

Teilnehmerorientierung als Antwort auf die Individualisierung bei dem Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen

Haben sich ratsuchende Adressat:innen für den Besuch einer Weiterbildungsveranstaltung entschieden, ist es Aufgabe der Lehrenden, mit den individuellen Lernmotiven, Lernzielen, Lernvoraussetzungen der Teilnehmer:innen in den Veranstaltungen didaktisch umzugehen. Betrachtet man den didaktischen Diskurs der Erwachsenen-/Weiterbildung, wird deutlich, dass insbesondere didaktische Prinzipien einen zentralen Diskursstrang bilden. Vor dem Hintergrund der Durchsetzung des Konstruktivismus als Leittheorie einerseits und der immer noch schwach ausgeprägten Lehr-/Lernforschung sowie dem heterogenen Angebotsspektrum der Erwachsenen-/Weiterbildung andererseits fungieren didaktische Prinzipien sowohl als professionelle Selbstvergewisserung nach innen als auch zur Selbstdarstellung nach aussen (vgl. Stanik 2020, S. 280). Aus der Vielzahl der didaktischen Prinzipien scheint insbesondere das Prinzip der Teilnehmerorientierung und das sich hierunter zu subsumierende Prinzip der Lernzielorientierung Antworten auf Fragen der Individualisierung bereitzuhalten. Teilnehmerorientierung stellt seit den 1970er Jahren das zentrale Leitprinzip der Erwachsenen-/Weiterbildung dar. Wenn Teilnehmerorientierung grundlegend als Herstellung der Passung von objektiven Lernanforderungen und individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer:innen zu verstehen ist (vgl. Tietgens 1980, S. 216), scheint dessen Relevanz im Hinblick auf die Individualisierung offenkundig zu sein. Neben einer an den Teilnehmenden ausgerichteten Aufbereitung der Lerninhalte und Auswahl von Vermittlungsmethoden sind die Lerner:innen im Sinne des Prinzips an möglichst vielen didaktischen Entscheidungen zu beteiligen (vgl. Siebert 1975, S. 95 f.). Hierzu braucht es jedoch zunächst eine «Überschaubarkeit und Durchschaubarkeit des Lern-/Lehrgeschehens in Bezug auf Organisation, Inhalt, Methode» (Klein 2005a, S.  36). Erst wenn Teilnehmende über diese Aspekte informiert sind, können sie sich an der weiteren didaktischen Gestaltung der Lernveranstaltungen beteiligen. Teilnehmer:innen sollten dabei insbesondere auch Räume zur Erkundung ihrer Lerninteressen gegeben werden (vgl. Breloer 1980, S.  82), die in der Folge durch die Lehrenden in Lernziele zu überführen sind. Da aufgrund der skizzierten Merkmale der Individualisierung davon auszugehen ist, dass Lerninteressen, Verwendungszusammenhänge der Bildungsveranstaltungen und damit auch die Lernziele eher heterogen als homogen sind, werden zieloffene Lernprozesse notwendig. Diese sind dadurch charakterisiert, dass den Teilnehmenden unterschiedliche Lernzieloptionen eröffnet werden, die dann unter pädagogischer Begleitung auf individuellen Lernwegen selbst zu erschliessen sind (vgl. Schäffter 2001, S. 23f.). Hierfür bedarf es auf der einen Seite Lehrende, die gewillt sind, die Teilnehmer:innen konsequent als Ausgangspunkt aller didaktischen Überlegungen zu machen und sich in der Folge als Lernprozessgestalter:innen/-begleiter:innen begreifen. Auf der anderen Seite müssen Teilnehmer:innen bereit sein, Verantwortung für ihre Lernprozesse zu übernehmen. Hierfür braucht es insgesamt organisationale Rahmenbedingungen, die eine entsprechende Lehr-/Lernkultur ermöglichen. Idealtypisch scheint hierfür die von Franz (2016, S. 98ff.) rekonstruierte Kultur des «Lehrens im Modus reflexiver Prozessbegleitung» zu sein. Merkmale einer solchen Lehrkultur sind u.a. Lehren als Gestaltungsaufgabe zu betrachten, bei der es die Eigeninitiative der Teilnehmenden zu fördern gilt, da diese für das Gelingen der Lernprozesse verantwortlich sind. Dies schliesst auch jene Teilnehmer:innen ein, die eher lehrendenzentrierte didaktische Gestaltungen von Veranstaltungen erwarten. Im Sinne einer konsequenten Teilnehmerorientierung sind solche Lehr-/Lernpräferenzen ebenso wie eher selbstgesteuerte zu berücksichtigen. Unterschiedliche Erwartungshaltungen der Teilnehmer:innen sind daher weder zu negieren noch zu nivellieren, sondern im Modus von Perspektivverschränkungen in den Veranstaltungen zu thematisieren. Unterschiedliche Sichtweisen, Erfahrungen und Techniken des Lernens werden damit selbst zum Gegenstand. Eine konkrete, didaktisch-methodische Umsetzungsmöglichkeit stellen hierfür sogenannte Lernkonferenzen dar, in denen individuelle Lerninteressen, Lernwege, (nicht) erreichte Lernziele von Teilnehmer:innen zu festgelegten Terminen reflektiert und ihnen Beteiligungsmöglichkeiten im Hinblick auf Lerninhalte und der Lernorganisation eröffnet werden (vgl. Klein 2005b, S. 44). Hiermit können nicht nur die sich individualisierenden Lernerwartungen berücksichtigt, Perspektivverschränkungen angeregt, sondern auch Schlüsselkompetenzen zur Selbststeuerung der eigenen lebenslangen Lernprozesse erworben werden.

Organisationale Fragen und professionelle Anforderungen

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Erwachsenen-/Weiterbildung einerseits selbst ein treibender Akteur im Kontext der gesellschaftlichen Individualisierung ist, da sie mit ihren Bildungsangeboten auch Möglichkeiten zur individuellen Gestaltung von (Bildungs-)Biografien schafft. Andererseits ist sie auch als ein Ort zu betrachten, an dem Perspektivverschränkungen im Rahmen von gemeinschaftlichen Lernprozessen initiiert werden können und die Folgen der Individualisierung zu reflektieren sind. Voraussetzung für die Übernahme dieser komplexen Aufgabe sind jedoch organisationale Verständigungsprozesse über die Frage, inwiefern die Individualisierung nicht nur als zu bewältigende didaktische An- und Herausforderung, sondern auch als erwachsenenbildnerische Bildungsaufgabe verstanden wird. Ausgehend von dieser Frage sind dann auch Veranstaltungen zu konzipieren, die bewusst heterogene Zielgruppen adressieren und auch die (negativen) Folgen der Individualisierung zur ihren Lerngegenständen machen.

Darüber hinaus können Angebote der Weiterbildungsberatung Antworten auf die Herausforderungen der Individualisierung geben. Einrichtungsgebundene Beratungen dürfen jedoch nicht verkürzend als Teil der Distributionspolitik von den Weiterbildungseinrichtungen verstanden werden, mit denen primär organisationale Interessen, wie eine gezielte Auslastung der Veranstaltungen, verfolgt werden. Um die Lern- und Bildungsanliegen ratsuchender Adressat:innen auch jenseits eigener Weiterbildungsangebote konsequent ins Zentrum der Beratungen zu stellen, sind entsprechende personale, örtliche und zeitliche Rahmenbedingungen für die Beratungsangebote bereitzuhalten. Dabei bedarf es professioneller Beratungsfachkräfte, die in der Lage sind, gemeinsam mit den Ratsuchenden Weiterbildungsbedarfe vor dem Hintergrund spezifischer Lebenslagen zu ermitteln, Weiterbildungsmöglichkeiten auch jenseits des eigenen Programms aufzuzeigen, um Hilfestellungen im Hinblick auf Weiterbildungsentscheidungen in geschützten (virtuellen) Räumen zu leisten. Und schliesslich gilt es in organisationalen Selbstverständigungsprozessen zu klären, inwiefern eine konsequente Ausrichtung der institutionalisierten Lehr-/Lernprozesse an den Teilnehmer:innen bereits erfolgt oder zukünftig erfolgen soll. Diese Fragen organisationaler Lehrkulturen sind nicht top-down zu steuern, sondern bedürfen einer partizipativen Einbindung aller Organisationsmitglieder.

Auf der Ebene der Lehrenden werden vor dem Hintergrund der Individualisierung Anforderungen im Hinblick auf ihre erwachsenenbildnerische Professionalität deutlich. Diese umfasst im Sinne einer differenztheoretischen Perspektive ein didaktisch-methodisches Grundlagenwissen, das mit den sich zuweilen widersprechenden teilnehmerorientierten Bedarfen in den Lehr-/Lernsituationen zu relationieren ist. In den letzten Jahren sind im deutschsprachigen Raum unterschiedliche Kompetenzmodelle und -anerkennungsverfahren für Lehrende der Erwachsenen-/Weiterbildung (das AdA-System in der Schweiz, das wba-Zertifikat in Österreich oder das GRETA-Modell in Deutschland) entwickelt worden. In allen Verfahren/Modellen ist unter anderem auch die Fähigkeit einer an den Teilnehmenden orientierte didaktisch-methodische Ausrichtung der Lehrveranstaltung verankert. In diesem Zusammenhang ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion als übergreifende Kompetenzanforderung eine weitere professionelle Voraussetzung. Selbstreflexionen können nämlich dabei helfen, die prinzipiell kontingenten Lehr-/Lernsituationen unter Berücksichtigung divergenter Interessen, Erwartungen, Ziele der jeweiligen Teilnehmer:innen zu bewältigen (vgl. Pachner 2013, 06-7). Voraussetzung für entsprechende Selbstreflexionen sind jedoch kontinuierliche Selbstbeobachtungen des eigenen Lehrhandelns. Hierzu empfiehlt sich beispielsweise die Nutzung von Lehrtagebüchern, um das alltägliche, häufig routinisierte Lehrhandeln zu dokumentieren. Lehrtagebücher können sowohl für individuelle als auch für kollektive Reflexionsprozesse im Rahmen von Fortbildungen genutzt werden. Ausserdem könnten sie für die Professionsforschung der Erwachsenen-/Weiterbildung eine Datengrundlage sein, um Phänomene der Individualisierung, die jeweiligen Umgangsweisen der Lehrenden sowie deren reflexive Bearbeitungen stärker aus Perspektive der Akteure empirisch in den Blick nehmen zu können (vgl. Kanter 2020).

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