Steht der Kern der Bildungsarbeit in Frage?
Der Beruf des Erwachsenenbildners bzw. der Erwachsenenbildnerin hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Veränderungen erfahren. Dabei wandelten sich die Anforderungen, die Tätigkeitsfelder, die Haltungen und Motive, die hinter der Bildungsarbeit mit Erwachsenen stehen genauso wie der Blick auf die Zielgruppen, die von «Hörern» zu «Teilnehmenden» wurden. Unverändert geblieben ist bisher der Kern der Bildungsarbeit: die soziale Interaktion von Menschen im Lehr-Lern-Prozess. Das ändert sich jetzt grundlegend. Lehrende und Lernende müssen sich auf eine neue Wirklichkeit einstellen.
Ohne die Menschen, die sich darum kümmern, dafür tätig sind und sich engagieren, gibt es keine gesellschaftlichen Bereiche. Dies wird auch in Zeiten der Automaten, der Computer und der digitalen Kommunikation so bleiben. Und dies gilt auch für die Erwachsenenbildung. Aber Änderungen sind unausweichlich. Sie finden oft schleichend statt, manchmal aber auch in Schüben, wie bei individuellen Alterungsprozessen, und sind immer bedingt durch einen gesellschaftlichen Wandel. Der Vollzug der Änderungen erfolgt meist zeitverzögert, seine Form und sein Vorgehen sind nicht monokausal ableitbar.
Gesellschaftlicher Wandel erfordert und verändert Weiterbildung
Die gesellschaftlich bedingten Änderungen der menschlichen Tätigkeiten, Berufe und Professionen (in dieser aufsteigend verdichteten Fassung) können Inhalte betreffen, Verfahren, Zuordnungen und Wertigkeiten. Sie können aber auch nur Teile der Tätigkeiten, Berufe und Professionen betreffen, kurzfristig und längerfristig gelten. Sie können auch bis zur ultima ratio gehen, der Abschaffung eines Berufes, der Schaffung eines neuen Berufes.
Die meisten der Änderungen sind durch den technologischen Wandel bedingt. Ein Automechaniker übt heute gänzlich andere Tätigkeiten aus als noch vor 30 Jahren, kennt sich mit Elektrik, Elektronik und digitaler Steuerung aus. Landwirte, Schornsteinfeger und Ärztinnen bedienen heute gänzlich andere Geräte als zu früheren Zeiten. Immerhin: Diese Berufe gibt es noch. Anderen Berufen war weniger Nachhaltigkeit beschieden: In meiner Jugend musste ich als Journalist lernen, meine Texte beim Schreiben schon selbst für den Druck zu «setzen», der Beruf des Schriftsetzers war in kürzester Zeit entfallen, die Bleibuchstaben und Setzkästen fanden ihren Weg in Wohnungen und auf Flohmärkte. Ganze Regionen verloren ihre Tätigkeiten, etwa bei Kohle und Stahl. Dafür entstanden neue Berufe, etwa im IT-Bereich, in der Telekommunikation, in der Ökologie. Dabei scheint sich die Zeit zwischen Entstehen und Vergehen von Berufen zunehmend zu verkürzen, die zeit- und kostspielige Entwicklung von entsprechenden Ausbildungsprogrammen kommt da kaum mehr hinterher – ein Grund dafür, dass der Ruf nach Basisqualifikationen, die nach Bedarf angepasst und aufgestockt werden können, immer lauter wird.
Gut für die Nachfrage nach Erwachsenenbildung, vor allem berufliche Erwachsenenbildung, die heute ja ohnehin den vierten Bildungsbereich dominiert. Dieser Beruf «Erwachsenenbildung» ist zwar schlecht bezahlt und hat kaum Aufstiegschancen, ist aber – so scheint es – krisenfest. Gesellschaftlicher Wandel erfordert Weiterbildung, und die Weiterbildung selbst ist von dem technischen Wandel nur indirekt betroffen. Bisher.
Tätigkeit und Beruf Erwachsenenbildner/in im Wandel
Dabei ist der Beruf des Erwachsenenbildners, der Erwachsenenbildnerin selbst erst vor etwa 60 Jahren entstanden, zumindest auf dem Papier dokumentiert. In den «Blättern zur Berufskunde» skizziert Hans Tietgens 1967 erstmals den HPM, den «hauptberuflichen pädagogischen Mitarbeiter», der sich aus dem Universum aller möglichen ehren- und nebenamtlichen Weiterbildungstätigkeiten herausschälte. Dieser Beruf stabilisierte sich in Deutschland mit dem Erlass von Weiterbildungsgesetzen, einer staatlichen Förderung und einer institutionellen Absicherung. Mit der Etablierung akademischer Studiengänge (und dem Anwachsen von Weiterbildungsforschung) lugte der Beruf sogar hinein in die Kategorie der Profession, ein mittlerweile gerne bemühter Begriff bei der Debatte um das Weiterbildungspersonal.
Es fehlte nicht an immanenten Veränderungen dieses Berufs (und seiner nebenberuflichen Varianten) in den letzten Jahrzehnten. Zu den Zeiten, als lernende Erwachsene noch «Hörer» waren, standen das eigene Fachwissen und ein pädagogisches Improvisationstalent hoch im Kurs. Als Staat und Wirtschaft die Erwachsenenbildung zur berufslastigen Weiterbildung wandelten, begann das Prinzip der Orientierung an den «Teilnehmern» (so hiessen die Hörer jetzt) zu dominieren – deren vorhandenes Wissen, deren gewonnene Erfahrungen waren im Interesse des Lernerfolgs im Lehr-Lern-Prozess vorrangig zu berücksichtigen. Als Weiterbildung in der Kette der Warenproduktion als Zulieferbetrieb einer qualifizierten «work force» erkannt wurde (und als Dienstleister mit «Kunden» und «Klienten» zu tun bekam), wuchsen die Anforderungen an Ökonomie und Qualität der Einrichtungen, Qualitätsmodelle wurden implementiert und realisiert. Und als immer deutlicher wurde, dass die einzelnen Menschen je individuelle Qualifikationsprofile zu entwickeln und individuelle Bildungswege zu gehen hatten, gewannen Bildungs- und Lernberatung als Bestandteile der Tätigkeit von Erwachsenenbildnern und -bildnerinnen an Bedeutung und Umfang. Dies alles, versteht sich, ohne dass sich an der wenig attraktiven, teilweise prekären Beschäftigungssituation in der Weiterbildung Wesentliches geändert hätte.
Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Feldern (z.B. Bild – Foto – Film) verschwanden die älteren Tätigkeitsbereiche und Anforderungen nicht, sondern blieben mit einer neuen Konnotation erhalten. Seit wir den segensreichen Kompetenzbegriff inflationär gebrauchen, können wir das auch akribisch verfolgen. So ist etwa die Kompetenzbeschreibung der Beschäftigten in der Erwachsenenbildung in Europa von einer kaum zu überbietenden Komplexität (vgl. Research voor Beleid 2008, 2010), die individuell nicht realisierbar ist. Die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte veränderten die Tätigkeit der Erwachsenenbildnerinnen und -bildner im Kern nicht, sondern erweiterten sie. Geblieben ist das, was Bildungsarbeit ausmacht: die reflektierte und gezielte Interaktion zwischen Menschen im Lehr-Lern-Prozess.
Verändert haben sich eher die Haltungen, die hinter der Arbeit in der Erwachsenenbildung stehen, die Werthaltungen und Motive. Dieter Nittel hat das mit dem Buchtitel «Von der Mission zur Profession» auf den Begriff gebracht. Viele engagierte Personen wählten früher den Beruf Erwachsenenbildung, weil sie Menschen bilden, zu deren Entwicklung beitragen, ihr eigenes Wissen, ihre Erfahrungen weitergeben wollten. «Quereinsteiger» allesamt, es gab vorher weder den Beruf noch eine Ausbildung dazu. In Stellenausschreibungen der 1960er und 1970er Jahre wurden entsprechend – neben Fachkenntnissen – humanitäre Bildungsziele, Initiative, Kreativität und Kontaktfähigkeit als Fertigkeiten erwartet. Dies gehört nun zu den persönlichen und sozialen Kompetenzen. Auch gegenwärtig sind viele Beschäftigte in der Erwachsenenbildung von diesen Motiven getragen, in den Kompetenzbeschreibungen stehen sie aber nicht mehr an erster Stelle oder tauchen gar nicht mehr auf.
Die Digitalisierung verändert die Struktur pädagogischer Interaktion
Doch heute stehen uns Veränderungen bevor, die erstmals auch grundlegend den Kern der Bildungsarbeit, die soziale Interaktion von Menschen im Lehr-Lern-Prozess, durch technische Innovation betreffen und in Frage stellen: die Digitalisierung. In Zeiten der Pandemie haben wir auf breiter Front Erfahrungen damit sammeln können, was Online-Lernen bedeutet und was es mit den Lehrenden und den Lernenden macht – in Schule, Hochschule und Weiterbildung. «Die Reise ins Digitale hat erst richtig begonnen» – dieses Interview in der letzten Nummer der EP verdeutlicht die Unterschiede einer analogen und einer digitalen Bildungsarbeit, hoffnungsvoll und engagiert, gepaart mit ein wenig Skepsis (vgl. Schenkel 2021). Und dem Bewusstsein um eine grundlegende Änderung – so manche Angehörigen der jüngeren Generationen können keine Uhrzeit mehr auf einem analogen Zifferblatt erkennen.
Lehr-Lern-Prozesse im digitalen Modus werden nicht unsozialer, sie werden anders sozial. Sie werden nicht unpersönlicher, sie transformieren die Interaktion jedoch in den virtuellen Modus. Die Lerngruppen verschwinden nicht, sie justieren sich neu und anders. Alle Elemente des Lernprozesses werden neu konfiguriert: «Wir müssen lernen, neu zu denken. Es geht nicht um die Frage, wie wir bisherige (…) Angebote in digitale Settings übertragen (…) Wir sollten vergessen, was wir vorher gemacht haben» (B. Moser im EP-Interview, s. Schenkel 2021, S. 81). Fragen des Bewusstseins, der Freiheit, der Verantwortung, der Autonomie und der Verletzlichkeit stellen sich im digitalen Modus anders als im analogen Modus (vgl. Kirchschlaeger 2021). Dies gilt auch und gerade in pädagogischen Prozessen, in denen diese Werte immer im Mittelpunkt stehen.
Eine grundsätzliche Aufarbeitung steht, trotz einer hektischen Publikationsflut zum Thema, in psychologischer, sozialer und pädagogischer Hinsicht noch aus. Es ist auch noch zu viel in Bewegung. Dennoch ist ersichtlich, dass es hier um eine wirklich grundlegende Veränderung im Beruf und damit auch im Kompetenzprofil der Erwachsenenbildner und -bildnerinnen geht. Sie müssen, ebenso wie die Lernenden, sich auf diese neue Wirklichkeit einstellen, die neuen Möglichkeiten kennenlernen und ausloten, die Grenzen erkennen. Sie sind gezwungen, selbst zu lernen, bis hin zu einer Neudefinition ihres Berufes selbst: «Wir sollten vergessen, was wir vorher gemacht haben» (B. Moser, ebda).
Zukunftsperspektiven
Immerhin: die Hoffnung bleibt, dass dadurch die Existenz des Berufs der Erwachsenenbildnerin bzw. des Erwachsenenbildners nicht gefährdet ist. Da hilft ein Blick in die Geschichte: In den 1990er Jahren, vor gut 20 Jahren, gab es in Europa eine Einstellung, derzufolge Weiterbildungspersonal fast verzichtbar sei. Die Idee des «self directed learning», ja des «self learning», wurde begeistert aus den Vereinigten Staaten importiert (in Deutschland vor allem Günther Dohmen) und traf zusammen mit dem Erstarken konstruktivistischer Ansätze auch in der Weiterbildung (in Deutschland vor allem Rolf Arnold und Horst Siebert), denen zufolge ohnehin das Lernen nicht kausal mit dem Lehren verknüpft ist. Das schien institutionelle und personelle Strukturen und besonders deren Finanzierung zweitrangig zu machen – ein legitimatorischer Segen für Lösungen im Bereich schrumpfender Haushalte und wachsender Bedarfe. Es dauerte einige Jahre, bis bildungspolitisch und ideologisch zurückgerudert werden musste, die Beschäftigten im Bereich wieder ins Blickfeld gerieten. Zu deutlich wurden die Mängel im Erreichen von Zielgruppen, der Rückgang von Teilnahmequoten und der Bedarf an einer weiter qualifizierten «work force». Auch wenn die Erwachsenen nur selbst lernen, so die Devise, macht es doch Sinn, sie dabei anzuleiten und ihnen zu helfen. Dazu bedarf es der Menschen, die lehren, beraten, unterstützen.
Das stimmt uns hoffnungsvoll. Doch müssen wir akribisch daran arbeiten, die künftigen technischen Möglichkeiten sinnvoll in pädagogische Programme und Strukturen umzusetzen, die nicht nur innovativ und effektiv, sondern auch sozial und human sind.
Literatur
Friese, M. (Hrsg.): Care Work 4.0 – Digitalisierung in der beruflichen und akademischen Bildung für personenbezogene Dienstleistungsberufe, Bielefeld 2021.
Kirchschlaeger, P. G.: Digital Transformations and Ethics, Baden-Baden 2021.
Nittel, D.: Von der Mission zur Profession? Stand und Perspektiven der Verberuflichung in der Erwachsenenbildung, Bielefeld 2000.
Nuissl, E.: Professionalität, Dilettantismus und Qualifikation, in: Meisel, K. (Hrsg.), Veränderungen in der Profession Erwachsenenbildung, Frankfurt/Main 1997.
Nuissl, E.: Professionalisierung in Europa, in: REPORT 4/28, 2005.
Research voor Beleid: Adult Learning Professionals in Europe, Zoetemeer 2008.
Schenkel, R. (2021): Die Reise ins Digitale hat erst richtig begonnen. Interview mit Benjamin Moser und Hana Ditetova. In: Education Permanente 2021-1. Weiterbildungsbeteiligung verstehen und fördern. Zürich, SVEB. S. 79–85. Online: https://www.ep-web.ch/de/artikel/die-reise-ins-digitale-hat-erst-richtig-begonnen (15.09.2021)
Schulenberg, W., u. a.: Zur Professionalisierung der Erwachsenenbildung, Braunschweig 1972.
Ekkehard Nuissl, Prof. em. Dr. habil. Drs. h. c. Kontakt: nuissl@die-bonn.de