28.05.2024
N°1 2024

Poesiepädagogische Ansätze in der Grundbildung Erwachsener – Einblicke in die Umsetzung im Rahmen eines europäischen Projektes

Poesiepädagogische Ansätze können Menschen mit Poesie verbinden. Diese Idee fordert dazu auf, Vorannahmen von Poesie und pädagogischem Handeln zu analysieren. Grundlegende Prinzipien sind eine wertschätzende und ressourcenorientierte Haltung sowie die Offenheit für eine Vielfalt von Poesieerfahrungen. Als lyrische Gattungen, in der Musik, im Tanz, in der Kunst und darüber hinaus kann Poesie kulturell und individuell unterschiedlich erfahren werden. In der Grundbildung mit Erwachsenen bieten poesiepädagogische Ansätze ganzheitliche Zugänge zur Poesie im erweiterten Sinne und eine Öffnung für die Schrift. Sie stärken das Recht der vermeintlich Schriftlosen auf Poesie und die schönen Künste. Der vorliegende Beitrag bietet Einblicke in die Umsetzung im Rahmen des EU-Projektes POETA.

Zur Entwicklung und Umsetzung poesiepädagogischer Ansätze in der Grundbildung Erwachsener stellen sich unter anderem die folgenden Fragen: Mit welcher pädagogischen Haltung begegnen die Lehrenden den Menschen? Mit welchen Ideen von Poesie sind die Lehrenden und die Lernenden verbunden? Was ermöglicht Menschen in der Grundbildung, sich mit Poesie zu verbinden? Welche Wirksamkeit haben Poesieerfahrungen für Menschen auf dem Weg zur Schrift?

Die Akteur*innen der sprachlichen und schriftsprachlichen Grundbildung Erwachsener im Projekt POETA reflektieren ihre Rollen wie auch ihre Vorannahmen von Poesie. Die Poesie zeigt sich in vielfältigen Erscheinungsformen: zum Beispiel in der Lyrik, im Tanz, in der Musik, im Film und in der Kunst. Diese werden, wie auch eine Poesie des Alltags, kulturell und individuell unterschiedlich wahrgenommen oder sie bleiben den Menschen verschlossen. In der ursprünglichen Wortbedeutung von Poesie als «Erschaffung» ist das kreative Potenzial enthalten, das Menschen, denen bisher der Zugang zur Schrift weitgehend verwehrt geblieben ist, nutzen können, um ihren Weg zur Schrift zu finden.  

Der vorliegende Beitrag skizziert Schwerpunktsetzungen von Partner*innen des Projektes POETA: einen Zugang selbstorganisierten Lernens im gleichberechtigten Dialog, Ansätze, die von der Stärkung der kulturellen und persönlichen Identität geleitet sind, sowie einen literarisch-therapeutischen Ansatz.

Das Projekt POETA

Die Partner*innen des Projektes POETA folgen ihren spezifischen Ansätzen von Erwachsenenbildung sowie gemeinsamen Prinzipien von Grundbildung bzw. Basisbildung.1 Dazu zählen eine wertschätzende und ressourcenorientierte Haltung, die Wahrnehmung der komplexen Lebensrealitäten der Menschen, denen der Zugang zur Sprache und Schrift weitgehend verwehrt geblieben ist, sowie die Bewusstheit über die Macht der Sprache und der gesellschaftlichen Ausgrenzungen. Den Projektpartner*innen gemeinsam ist zudem das Prinzip des gleichberechtigten Dialogs und der Respekt vor der Verletzlichkeit der Menschen auf dem Weg zur Schrift.

Im Fokus von POETA stehen nicht das Verwertbarkeitsinteresse von Grundbildung und die Anpassung der Schriftlichkeit an Normen, sondern unter anderem das Mitteilungsbedürfnis der Menschen, die Entgegnung gesellschaftlicher Zuschreibungen und die Stärkung der Selbstwirksamkeitserfahrung. In der Regel ist der Zugang zur Schrift in den Sprachkursformaten an Bedingungen geknüpft und durch Zeitvorgaben reglementiert. Der Lernerfolg wird in Prüfungsformaten gemessen und kann existenzielle Konsequenzen haben. Zudem wird das Sprachenlernen in zunehmendem Masse von aussen zweckgebunden und auf berufliche Bedarfe ausgerichtet. Erfahrungen mit allen poetischen Erscheinungsformen dürfen aber jenseits aller Nützlichkeit gemacht werden. Dies widerspricht keinesfalls dem Anliegen der Menschen, Sprachprüfungen zu absolvieren oder ein Zertifikat zur Berufsreife zu erlangen.

Seit dem Herbst letzten Jahres stehen den Akteuren der sprachlichen und schriftsprachlichen Grundbildung bzw. Basisbildung mit Erwachsenen und dem interessierten Fachpublikum ein Massive Open Online Course (MOOC) und ein E-Book aus dem Erasmus+-Projekt POETA zu poesiepädagogischen Ansätzen in der Grundbildung mit Erwachsenen zur Verfügung.2 Die fünf Partner*innen aus Österreich, Deutschland, Griechenland, Spanien und Zypern stellen ihre Entwicklungen und Erprobungen zu poesiepädagogischen Ansätzen vor. Sie adressieren Erwachsene im Bereich der Erstsprache und der Zweitsprache Deutsch mit dem Blick auf deren unterschiedliche Möglichkeiten der Aneignung und des Gebrauchs der Sprache und insbesondere der Schriftsprache. Das sind Menschen, die in unterschiedlicher Weise gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren haben und erfahren, die sich mitteilen möchten, die im Verlauf des Projektes POETA ihre Eigenmächtigkeit und Autonomie stärken.

Im Folgenden werden vier Beispiele poesiepädagogischer Arbeit dargestellt, die im Verlaufe des Projektes POETA im Rahmen von transnationalen Treffen diskutiert und an den Kursorten der Partner*innen mit den Lernenden weiterentwickelt und erprobt wurden.

Selbstorganisiertes Sprachenlernen im gleichberechtigten Dialog

«das kollektiv» in Linz, Österreich, ist eine Selbstorganisation von Migrant*innen für Migrant*innen, die ihr Sprachenlernen und den Schrifterwerb eng mit ihrer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zuschreibungen des Andersseins und der Fremdheit verbinden. Migrant*innen oder Geflüchtete sind hier auch Lehrende, deren Anliegen es ist, Materialien und Methoden zu hinterfragen, «um festzustellen, wer repräsentiert wird, wessen Perspektive berücksichtigt wird und für wen die Methoden konzipiert sind. (…) Die Betrachtung von Intersektionalität als (Metapher-)Wissen ermöglicht es den Lehrkräften, sich bewusster und ernsthafter mit den Lernenden zu verbinden. Dies kann zumindest die Reproduktion bestimmter Faktoren in Unterdrückungssystemen reduzieren» (Carrington et al., 2023, S. 56).3

Sie reflektieren das Verhalten und die Denkweisen in der spezifischen Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden. Mit der pädagogischen Haltung einer reflexiven Verantwortlichkeit wird kritische Bildungsarbeit möglich, «in der die Lernenden nicht als menschliche Ressourcen, sondern als Mitgestalter*in eines partizipativen, dialogischen und freudvollen Prozesses angesprochen werden» (2023, S. 58). Die Anerkennung von deren Unterschiedlichkeit birgt die Gefahr einer Konstruktion der «Anderen» im Gegensatz zu einem «Wir». Das Konzept des «Othering» beschreibt «den Diskurs des Fremdmachens als eine gewaltvolle hegemoniale Praxis» (Mecheril et al., 2010), den professionell Lehrende reflektieren. Mit einer kritischen Bildungsarbeit im Sinne von Paulo Freire werden im gleichberechtigten Dialog mit den Lernerinnen und Lernern autonome Lernprozesse initiiert, die im Kontext der Poesie freudvoll, motivierend und auch heilsam sein können.

Am Lernort des Bildungsvereins das kollektiv ist eine Wand im Innenhof mit dem Gedicht von Hilde Domin (1995, S. 111) beschrieben: «Ich setzte den Fuss in die Luft, und sie trug.» Die Migrant*innen, die oft auch Geflüchtete sind, teilen sich zu diesem Impuls auf Bild und Textebene mit. Ihre Collagen dokumentieren Leid und Hoffnung.

Zur Stärkung der Selbstidentität und als Entgegnung von Vorurteilen und Etikettierungen dient ein Text von Adrian Piper (2003). «Dear Editor, please don’t call me a …» Das Muster der Vorlage aufnehmend, schreiben die Lerner*innen gegen die Vorurteile an, denen sie sich ausgesetzt sehen:

«PLS DONT CALL ME A GIRL WHO IS TOO PRETTY TO BE BLACK.» – «PLS DONT TELL ME THIS IS NOT MY TOWN.» – «PLS DON’T ASK ME WHAT MY IDENTITY IS» – «PLS DONT ASK ME STUPID QUESTIONS.» – «PLS REMEMBER THAT I AM A PERSON.» etc. (das kollektiv, 2022).

Die lange Reihe der Appelle wird zum Abschluss des Erarbeitungsprozesses in vielen Farben auf ein Tuch geschrieben und in einem Fenster des Lernortes ausgehängt. Die Lerner*innen des kollektivs verstehen ihren poetischen Beitrag als Aufschrei der Gefühle und als Sprache des Widerstandes.

Mit poetischen Impulsen die kulturelle und persönliche Identität stärken

In einem Modul des POETA-MOOC steht das Thema der sozialen Inklusion im Mittelpunkt. Das Thema wird mit einem Video eingeführt, das die feministische Philosophin Judith Butler im Gespräch mit einer jungen Frau zeigt. Die beiden Frauen bewegen sich in einer Alltagssituation auf belebten Gehwegen und in Geschäften. Die junge Frau sitzt im Rollstuhl. Ihre Ausgrenzung wird im Film sichtbar und ist dem Gespräch zu entnehmen. Die Lerner*innen bemerken zum Beispiel, dass die junge Frau sagt, sie gehe jeden Tag spazieren. Im Café benutze sie zum Greifen der Tasse Körperteile, die dafür nicht vorgesehen seien. Sie könne viel, aber nicht überall wohnen oder arbeiten. In anderer Weise als die junge Frau erfahren auch die Lerner*innen Einschränkungen, denen sie phantasievoll begegnen, und soziale Ausgrenzung. Der Film hilft ihnen, ihre Erfahrungen zu teilen. In Collagen finden sie ihre Ausdrucksform.

Auch das Gedicht von Gloria Anzaldúa «To live in the Borderlands» (Anzaldúa, 1987) gibt Impulse zur Reflexion über Ausgrenzung und die Prozesse der Inklusion. Wird Inklusion nicht als «Einschliessen» begriffen, kann die persönliche Identität gewahrt bleiben.

«To live in the Borderlands means knowing that the india in you, betrayed for 500 years, is no longer speaking to you, that mexicanas call you rajetas, that denying the Anglo inside you is as bad as having denied the Indian or Black; (…) people walk through you, the wind steals your voice, you’re a burra, buey, scapegoat, forerunner of a new race, half and half – both woman and man, neither – a new gender.» (Anzaldúa, 1987, S. 194f.)

Die Lernerinnen und Lerner im Projekt POETA erleben in unterschiedlicher Weise, dass ihnen die eigene kulturelle und/oder persönliche Identität abgesprochen wird. Und sie werden von Etikettierungen gewaltvoll berührt. Anzaldúas Gedicht bietet ihnen die Möglichkeit, zu ihrem Erleben Bilder und Worte zu finden und sich gegen die Fremdzuschreibungen zu stellen. In den Lernsettings mit Migrant*innen und Geflüchteten werden auch Vorlagen in englischer Sprache verwendet. Sie ist nur eine von vielen möglichen Sprachen, die zwischen der Muttersprache und dem Deutschen vermitteln können. Lerner*innen, die mit mehreren Sprachen verbunden sind, lassen sich von dem Projekt einer Lehrerin in Queens, New York, mit dem Titel «Poetry in Translation» inspirieren.4 Sie schreiben zu Gedichten ihrer Sprache und Kultur, indem sie je nach ihren sprachlichen Möglichkeiten Inhalte in die Unterrichtssprache übertragen. Auf diese Weise entstehen eigene Gedichte, die von den Lerner*innen mit hoher Motivation vorgetragen werden.5

Selbstpräsentation durch griechische Oden und Strassenkunst

Teilnehmende der Second Chance School im griechischen Kalamata stärken sich im schriftsprachlichen und sprachlichen Ausdruck sowie in ihren Möglichkeiten zur (Selbst-) Präsentation über Zugänge zu griechischen Oden. Vor dem Publikum ihrer Familien und der POETA-Partner*innen präsentieren sich die Lernerinnen und Lerner mit selbst verfassten Oden, die in Rollenspielen und Selbstinszenierungen erarbeitet worden sind: in einem Prozess, in dem es gelingt, zur eigenen Stimme zu kommen, zu atmen, zu summen, Geräusche zu machen, den Klang der eigenen Stimme bewusst wahrzunehmen. Das sind Erfahrungen vor der Schrift, die für den Zugang zur Schrift öffnen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Menschen im unterdrückenden Arbeits- und Familienalltag nicht gesehen und gehört werden. Das erworbene Wissen, dass der Schriftgebrauch nicht schon zu Beginn den Normen entsprechen muss, erlaubt, den Zugang zur Schrift mit Leichtigkeit und Freude zu verbinden. Wesentlich für die Lernenden der Second Chance School ist die Bewusstheit, mit der Tradition griechischer Poesie verbunden worden zu sein. Die ausgegrenzten und oft diffamierten Menschen, die zuvor vermeintlich Schriftlosen, nehmen mit Stolz Anteil an ihrer Kulturalität und an der Vorstellung, die Wiege der Poesie in Griechenland zu verorten. Mit dem Blick auf die kulturelle Vielfalt, die die Projektpartner*innen von POETA sichtbar machen, lassen sich die Lernenden der Kalamata Second Chance School von der französischen Gruppe «Oulipo» aus den 1960er Jahren inspirieren. Die Gruppe beschäftigte sich mit der Verbindung von Mathematik und Poesie, die für Oulipo die Quelle der literarischen Kreativität ist. Kreative Impulse sind zum Beispiel das Schreiben eines Gedichtes, in dem jede Zeile ein Wort und jede weitere Zeile ein Wort mit einem zusätzlichen Buchstaben enthält, und das «N+7»-Gedicht. Jedes Substantiv eines Gedichtes wird durch das siebte Wort aus einem Wörterbuch ersetzt.6 Eine erweiterte Sprachbewusstheit und ein freierer Umgang mit Schrift werden auch durch Aktivitäten im öffentlichen Raum ermöglicht. Die Lernenden erkunden die Strassenkunst in ihrer Stadt und haben die Gelegenheit, in einer gemeinsamen Aktion an Wänden ihres Lernortes Bilder, Zeichen und Schrift anzubringen. Die vormals «Unsichtbaren» setzen auf diese Weise Zeichen.

Literarisch-therapeutisches Schreiben

Eine Veröffentlichung von Adamczak und Wintzen (1993), auf die im Projekt POETA Bezug genommen wird, dokumentiert die Arbeit in Schreibgruppen der Erstsprache Deutsch, die Autor*innen vertreten einen literarisch-therapeutischen Ansatz. Für die Menschen auf dem Weg zur Schrift dienen literarische Vorlagen und Gedichte bekannter Dichterinnen und Dichter als Schreibanregungen. Menschen, die sich in Angst und Unsicherheit der Schrift verschlossen haben, schöpfen Kraft aus den Worten eines Gedichtes. In anderer Weise als die Migrant*innen des kollektivs in Österreich sind auch sie Verletzte und Ausgebeutete. Oftmals wurde ihnen in ihrem Leben jegliches Zutrauen verweigert, und sie wurden beim Zugang zur Schrift anhaltend entmutigt und gedemütigt.

Wenn sich die Lerner*innen in den poesiepädagogischen Ansätzen unter anderem mit Gedichten und Dichter*innen verbinden, dürfen sie sich das Gedicht wie einen «magischen Gebrauchsartikel» (Hilde Domin, 1988, S. 70) zu eigen machen, um Angst in Hoffnung umzuwandeln und um die Welt mit eigenen Worten zu benennen und zu verändern. Hilde Domin spricht in ihrem Gedicht «Unaufhaltsam» vom «schwarzen Wort»: «Besser ein Messer als ein Wort. / Ein Messer kann stumpf sein. / Ein Messer trifft oft / am Herzen vorbei. / Nicht das Wort.» (Domin, 1987, S. 23). Eine Schreiberin nimmt diese Gedanken auf und macht Mitteilung von ihren Verletzungen, die sie durch das «schwarze Wort» erfahren hat und von den Wunden, die immer wieder aufreissen. Sie wurde wegen ihrer vermeintlichen Schriftlosigkeit blossgestellt. Die Wendung von Hilde Domin benutzt die Lernerin als Metapher für erlittenes Unrecht. Eine andere Teilnehmende der Schreibgruppe schreibt über Gedichte, die «im Kopf geblieben sind, die einen beschäftigen». Sie hat erfahren, wie durch die Worte «traurige, fröhliche Gedanken kommen …». Sie «nehmen uns an der Hand und lassen nur den Körper zurück». (Adamczak & Wintzen,1993, S. 112).

«Heute / hat ein Gedicht / mich wieder erschaffen», so lauten die ersten Zeilen eines Gedichtes von Rose Ausländer (Ausländer, 1977, S. 46). Lernerinnen und Lerner der Schreibgruppen sprechen oftmals davon, dass für sie mit dem Zugang zur Schrift und zu den Worten der Dichterinnen und Dichter ein neues Leben angefangen hat. Sie seien zu Beginn wegen des Schreibenlernens gekommen und nun kämen sie für sich selbst.

Das KEB-Programm zur Qualifizierung von Lehrkräften der sprachlichen und schriftsprachlichen Grundbildung (Basisbildungsqualifizierung BBQ) entwickelte das Format von Impulsfilmen7, die auf der Ebene der Qualifizierung wie auch in den Lerngelegenheiten eingesetzt werden können. Die als Animationsfilme hergestellten Beiträge eröffnen unterschiedliche Themen. Zum Beispiel lädt der Impulsfilm «Wertschätzung» die Betrachter*innen ein, einem kleinen, bunten Vogel zu folgen, der von Regalen mit Gefässen über ein Waschbecken mit tropfendem Hahn auf den Kopf einer Frau fliegt, die an einer Töpferscheibe sitzt. Ehe der Vogel den Raum durch ein Fenster verlässt, steigen Zeichen aus dem Haar der Töpferin auf: Buchstaben, die eine Feder des Vogels zum Wort «Feder» transformieren (vgl. Jaehde et al., 2022).

Lernende einer KEB-Schreibgruppe sehen die Szenen als poetisches Bild. Der tropfende Wasserhahn wird zur Metapher für Zeit und Vergänglichkeit. Der Vogel kann als Symbol der Hoffnung auf freie Entfaltung gedeutet werden. Und die Zeichen bzw. Buchstaben, die aus den Haaren der Töpferin emporsteigen, fordern die Lernenden zur Entzifferung auf. Zu ausgewählten Bildern aus dem Impulsfilm entstehen schriftliche Produkte. Für diese Gruppe hat das Bild der Töpferin eine ganz besondere Bedeutung, da sie neben ihrem Schreibraum eine Töpferwerkstatt nutzen. Ein Briefwechsel mit den Autor*innen des Impulsfilms schliesst sich an.

Betrachten Teilnehmende einer Lehrkräftequalifizierung den Impulsfilm «Wertschätzung», können sie unter anderem Bezüge zur Alphabetisierungsarbeit von Paulo Freire herstellen. Für ihn ist die Töpferin – ebenso wie die Dichterinnen und Dichter – eine Kulturschaffende. Im Sinne Freires können aus der Rezeption des Impulsfilms wie aus anderen poetischen Vorlagen generative Themen und generative Worte gewonnen werden.8 Die Lernenden finden über die zum Schrifterwerb bedeutsame Bildebene im Film ebenso wie in Graffiti oder Street-Art am Lernort die ihnen naheliegenden Themen bzw. Worte, die sie zur Entfaltung ihrer Schriftlichkeit gebrauchen können.

Fazit

Das Verständnis von Poesie und die Vorstellungen des Umgangs mit poetischen Vorlagen erfahren im Austausch zwischen den POETA-Partner*innen in mehrfacher Hinsicht Erweiterungen. Die Arbeit mit Poesie im erweiterten Sinne hat soziale, politische, kulturelle und persönliche Dimensionen. Für die Lerner*innen in POETA eröffnen sich neue Poesie- und Schrifterfahrungen: Poesie und utopische Imagination lassen zu, die Welt neu zu lesen und «neu zu schaffen». Dies ist für die Lernenden eine Vorstellung, die ihrer oft erdrückenden Realität entgegentritt. Poetische Interventionen können die kulturelle und persönliche Identität stärken. Der eigene poetische Ausdruck hilft den Menschen, den Ausgrenzungen und Missachtungen einer Gesellschaft zu widerstehen. Das Gedicht bietet sich ihnen als kreativer Schreibimpuls zum Gebrauch an, um sich hineinzuschreiben, die Stimme zu erheben, hörbar und lesbar zu werden. Poetische Impulse in Wort und Bild bieten sich den Lernenden im öffentlichen Raum an, um gefunden zu werden. Poetische Erfahrungen dürfen jenseits der ökonomischen Verwertbarkeit von Grundbildung gemacht werden. Lernende erleben zudem, dass Poesie eine heilende Kraft haben kann. Mit einem Gedicht kann sich ein Mensch verwandeln und neu erfinden. Das Gedicht eröffnet zudem Spielraum. Im Spiel mit der Sprache wird Poesie erfahrbar und der Zugang zur Schrift kann geöffnet werden. Und nicht zuletzt bietet das Gedicht einen «Augenblick von Freiheit» (Domin, 1988).

  1. In der Schweiz heisst dieser Bereich «Grundkompetenzen».
  2. Zu den Outputs siehe Webseite des Projektes: https://project-poeta.com/
  3. Zur Intersektionalität vgl. POETA E-Book, S. 55. Verfügbar unter: https://project-poeta.com/e-book/
  4. Carol McCarthy, poets.org/academy-american-poets/contributor/carol-mccarthy
  5. Vgl. POETA E-Book, S. 103. Verfügbar unter: https://project-poeta.com/e-book/
  6. Vgl. POETA E-Book, S. 122. Verfügbar unter: https://project-poeta.com/e-book/
  7. Das Format Impulsfilme ermöglicht einen Dialog über die unterschiedliche Wahrnehmung der bewegten Bilder und bietet Schreibanlässe.
  8. Generative Words. Verfügbar unter:  https://www.freire.org/concepts-used-by-paulo-freire

Literatur

Adamczak, C., & Wintzen, K. (Hrsg.) (1993): Die aus dem Schweigen kommen. Erwachsene nehmen die Dichter, Dichterinnen schreibend beim Wort. Lörzweiler: Wintzen.

Anzaldúa, G. (1987): To live in the Borderlands. Verfügbar unter: https://www.poeta-mooc.com

Ausländer, R. (1977): Doppelspiel. Köln: Literarischer Verlag Braun

Carrington, K., Mineva, G., Salgado, R. (2023): «Auf dem Weg zur Schrift»: über Lernende, Herausforderungen und professionelle Haltung. Verfügbar unter: https://project-poeta.com/e-book/

das kollektiv (2022): Please dont call me … Verfügbar unter: https://www.poeta-mooc.com

Domin, H. (1988): Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. München: Piper.

Domin, H. (1987): Gesammelte Gedichte. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH.

Jaehde, St., Grosse, K., & Wintzen, K. (2022): Impulsfilm «Wertschätzung». Verfügbar unter: https://www.poeta-mooc.com

Mecheril, P., Castro Varela, M., Dirim, I., Kalpaka, A., & Melter, C. (2010): Migrationspädagogik. Weinheim u.a.: Beltz.

Piper, A. (2003): «Dear Editor …». Verfügbar unter http://www.adrianpiper.com/dear_editor.shtml.