Neue Ansprüche an die Programmplanung – Einschätzungen aus einem hochschuldidaktischen Zentrum
Dieser Beitrag befasst sich mit veränderten Kompetenzanforderungen für Programmplanende in der hochschul(didakt)ischen Weiterbildung; der Schreibende versucht dabei, seine eigene Wahrnehmung als Leiter des ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der Pädagogischen Hochschule Zürich mit wesentlichen Diskursen abzugleichen. Dies soll Aussagen ermöglichen, die über die Subjektivität der Einzelwahrnehmung hinausweisen.
Hochschulen gelten als traditionsreiche Einrichtungen, die sich nur langsam verändern. Was also könnte sich durch die aktuellen Krisenerfahrungen in der kommenden Zeit in der Weiterbildung von Dozierenden, Studiengangsleitenden oder Stabmitarbeitenden an Hochschulen verändern? Und was bedeutet das für die Programmplanung entsprechender Angebote?
Digitalisierung ist nicht die (alleinige) Ursache
Die Krisenerfahrung der letzten zwei Jahre hat gewiss vieles verändert. Neben Fragen zu Gesundheit und Wirtschaft standen auch solche zur Bildung oft im Zentrum der öffentlichen und privaten Diskussionen. Dennoch sind Entwicklungen in der Bildungslandschaft, die oft der Krisenerfahrung zugeschrieben werden, wohl nicht alleine dieser geschuldet. Denn hier sei die Hypothese formuliert: Wesentliche Änderungen sind in der Gesellschaft und der Wirtschaft bereits erfolgt, und zwar vor Corona. Die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben sie freilich deutlicher sichtbar werden lassen. Für den wirtschaftlichen Strukturwandel dürfte die aktuelle Krise somit als Katalysator wirken. Die oft genannte digitale Transformation ist dabei ein starker Treiber, aber nicht Selbstzweck. Sie war in der Pandemie kein Selbstzweck – sondern Teil der Schutzmassnahme «Distanz halten» –, sie war es davor nicht und wird auch nach der Pandemie kein Selbstzweck sein. Die digitale Transformation ist vielmehr Phänomen einer postindustriellen gesellschaftlichen Ordnung, die sich immer stärker auf Wissen und Dienstleistung ausrichtet (vgl. Weyer 2017), und wird deshalb nach der Pandemie auch nicht an Bedeutung verlieren.
Mit Bezug auf Hochschulen führt die Publikation «Future Skills. Lernen der Zukunft – Hochschule der Zukunft» (Ehlers 2020) diesen über die Coronakrise hinausgehenden Rahmen exemplarisch vor Augen. Sie wurde unmittelbar vor Ausbruch der Corona-Pandemie im November 2019 fertiggestellt und steht somit nicht unter dem Eindruck der Krisenerfahrung. Ihre zentrale Annahme besteht darin, dass die gesellschaftlichen Herausforderungen derzeitiger und zukünftiger Generationen von einem sich immer schneller und nicht linear wandelnden Handlungskontext geprägt werden. Dieser basiert auf Emergenz, also auf Systemen, deren Entwicklungen sich oft nicht aus den vorherigen Zuständen ableiten lassen (vgl. ebd., S. 6). Das macht Prognosen künftiger Zustände noch schwieriger als früher und erfordert bezogen auf den Bildungskontext einen «Future Skills Turn»: Hochschulbildung – und somit auch die hochschulische und besonders die hochschuldidaktische Weiterbildung – kann sich nicht mehr damit begnügen, Studierende bzw. Teilnehmende durch Transfer von bestehendem Wissen auf künftige Anforderungen vorzubereiten. Vielmehr muss sie darüber hinaus «Studierende bei der Entwicklung von (…) Handlungsdispositionen und Handlungsbereitschaft für den Umgang mit komplexen, unbekannten Problemsituationen durch Reflexion, Werte und Haltungen» unterstützen (Ehlers 2020, S. 57). Ein Beispiel aus der digitalen Transformation sind die sozialen Medien (Facebook, Twitter, TikTok etc., aber auch Leser:innenkommentare in Online-Zeitungen), die das soziale Miteinander in postindustriellen Gesellschaften inzwischen wesentlich beeinflussen und sich permanent weiterentwickeln (vgl. dazu auch Wittpoth 2021).
Gesellschaftliche Änderungen und die Weiterbildung
Was verändert sich also durch die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen nun für Programmplanende in der hochschul(didakt)ischen Weiterbildung? Aus den vorangehenden Erläuterungen lassen sich folgende in Form von Hypothesen formulierten Herausforderungen ableiten, wobei sich die zweite infolge der Pandemie akzentuiert hat:
- Umgang mit Emergenz: Weiterbildungen müssen ihre Teilnehmenden stärker als bisher «fit» für den Umgang mit noch nicht bekannten Herausforderungen und Problemen machen, um nachhaltig wirksam zu sein.
- Digitale Transformation: Teilnehmende erwarten zunehmend, dass technologische Möglichkeiten für Weiterbildungen genutzt werden, von digitaler Administration über digitale Lerntools und -materialien bis hin zu Online-Weiterbildungen.
Diese beiden Herausforderungen wirken sich nicht in gleicher Richtung aus: Die Bedeutung der zunehmenden Emergenz ist vielen (potenziellen) Weiterbildungsteilnehmenden nicht oder nicht vollständig bewusst. Dementsprechend verlangen sie oft nach «Rezepten» für vorliegende Probleme und es ist eine didaktische wie inhaltliche Herausforderung, sie für die Bedeutung künftiger Entwicklungen zu sensibilisieren.
Die digitale Transformation ist demgegenüber, zumindest in ihren konkret fassbaren Erscheinungen, den Weiterbildungsteilnehmenden sehr bewusst und sie haben diesbezüglich meist auch sehr konkrete, wenn auch oft divergierende Ansprüche. Die grosse Bandbreite dieser Anliegen zeigte sich in einer im Frühling 2021 durch das Prorektorat Weiterbildung und Dienstleistungen der PH Zürich durchgeführten Befragung von mehr als 2000 Weiterbildungsteilnehmenden (internes Dokument).
Neue Ansprüche an die Programmplanung
Soll ein Weiterbildungsprogramm die genannten Herausforderungen annehmen, stellt dies auch neue Ansprüche an die Programmplanung. Drei zentrale Anforderungen, die sich aus dem bisher Erläuterten ergeben, lauten:
- Didaktische Gestaltung von Weiterbildungen: Um zum Umgang mit Emergenz zu befähigen, genügt reine Wissensvermittlung nicht. Der Umgang mit neuen Problemstellungen kann nur durch anwendungs- und transferbezogene Settings geübt werden. Die digitale Transformation befeuert diesen Prozess: Gerade im Distanzunterricht während der Corona-Pandemie wurde klar, dass an Hochschulen grosse Teile der Wissensaneignung durch Weiterbildungsteilnehmende asynchron und selbstgesteuert erfolgen können. Synchrone Weiterbildungssettings müssen somit noch stärker als bisher soziales Lernen, Austausch und Transfer ermöglichen, um eine (weiter-)bildende Wirkung zu erzielen. Programmplanende brauchen deshalb vermehrt Wissen und Können über didaktische Szenarien wie Flipped Classroom, bei denen soziale Ko-Präsenz für Austausch, Vertiefung und Kooperation zwischen Weiterbildenden und Teilnehmenden genutzt wird. Sie müssen ihre Weiterbildungsdozierenden entsprechend auswählen und mit ihnen an einem geteilten ermöglichungsdidaktischen Mindset (im Sinne von Arnold und Gomez Tutor 2007) arbeiten. Soweit beeinflussbar sind auch geeignete Rahmenbedingungen für die Interaktionsgestaltung zu schaffen, sei es durch entsprechend eingerichtete physische Räumlichkeiten oder durch digitale Infrastruktur und Lernmaterialien.
- Lebenslange akademische Bildung (vgl. Ehlers 2020, S. 289–292): Akademische Bildung wird lebenspraktisch kaum mehr durch ein Grundstudium (Bachelor, Master) abgeschlossen. Vielmehr werden akademisch Gebildete wiederholt Weiterbildungen an Hochschulen besuchen, um für die beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen gerüstet zu sein. Programmplanende sollten deshalb vermehrt anstehende berufliche und gesellschaftliche Herausforderungen identifizieren und Angebote entwickeln, die diese aufnehmen. Auch sollten sie Kooperationsoptionen mit etwaigen vorausgehenden grundständigen Studienangeboten prüfen, da Grundstudium und akademische Weiterbildung künftig weniger scharf getrennt sein werden und sein sollten. Weiter gewinnt angesichts der steigenden Notwendigkeit lebenslanger akademischer Bildung auch die akademische Weiterbildungsberatung an Bedeutung (vgl. z.B. Schlüter und Schilling 2018). Auch in diesem Kontext dürften digitale Medien zur Reduktion bestehender Schwellen beitragen: Verfügbarkeit von digitalen Lernmaterialien, Distanzlernangebote, Online-Beratungsmöglichkeiten begünstigen die lebenslange akademische Bildung.
- Einbezug der Arbeitswelt: Die fortschreitende Wissensbasierung der postindustriellen Wirtschaft und Gesellschaft ist wie erläutert ein Treiber des ständigen, insbesondere berufsbezogenen Weiterbildungsbedarfs. Der Kontakt mit den entsendenden Branchen und Betrieben wird deshalb immer wichtiger – auch um massgeschneiderte Weiterbildungen anbieten zu können. Programmplanende sollten deshalb zunehmend gute Kontakte zur Arbeitswelt pflegen und auch gezielt Kooperationen suchen. Auch in Weiterbildungslehrgängen sollte das organisationale Umfeld der Teilnehmenden möglichst systematisch einbezogen werden, um den Transfer in beide Richtungen (Weiterbildung → Betrieb und Betrieb → Weiterbildung) zu begünstigen (vgl. Feixas und Zellweger 2018). Digitale Medien können den diesbezüglichen Austausch gewiss erleichtern und intensivieren.
Diese kurzen Ausführungen veranschaulichen, dass lebenslanges Lernen in einer von Emergenz geprägten Gesellschaft an Bedeutung gewinnt und damit auch vielgestaltige neue Anforderungen an die Programmierung und Gestaltung von hochschulischen Weiterbildungen gestellt werden.
Literatur
Arnold, Rolf, und Gómez Tutor, Claudia (2007). Grundlinien einer Ermöglichungsdidaktik: Bildung ermöglichen, Vielfalt gestalten. Augsburg: Ziel.
Ehlers, Ulf-Daniel (2020). Future Skills. Lernen der Zukunft – Hochschule der Zukunft. Wiesbaden: Springer.
Feixas, Mònica, und Zellweger, Franziska (2018). Planning for Impact. Critical Factors Influencing Transfer of Learning in Further Education (S. 58-76). In: T. Zimmermann, G. Thomann und D. Da Rin (Hrsg.). Weiterbildung an Hochschulen. Über Kurse und Lehrgänge hinaus (S. 172-185). Bern: hep.
Schlüter, Anne, und Schilling, Jan (2018). Weiterbildungsberatung. In: T. Zimmermann, G. Thomann und D. Da Rin (Hrsg.). Weiterbildung an Hochschulen. Über Kurse und Lehrgänge hinaus (S. 172-185). Bern: hep.
Weyer, Johannes (2017). Technischer Fortschritt – Fluch oder Segen? In: Netzdebatte.BPB. 8.3.2017. Online unter: https://www.bpb.de/dialog/netzdebatte/243905/technischer-fortschritt-fluch-oder-segen (10.8.2021)
Wittpoth, Jürgen (2021): Wozu Beteiligung verstehen? In: Education Permanente 2021-1. Weiterbildungsbeteiligung verstehen und fördern (S. 60-68). Zürich: SVEB. Online: https://www.ep-web.ch/de/artikel/wozu-beteiligung-verstehen (15.09.2021)
Tobias Zimmermann leitet das Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung an der Pädagogischen Hochschule Zürich und ist stellvertretender Leiter der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung. Kontakt: tobias.zimmermann@phzh.ch
Die Pädagogische Hochschule Zürich (PHZH) ist eine der grössten Lehrerinnen- und Lehrerbildungsinstitutionen der Schweiz. Das Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung gehört zur Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung. Es richtet sein hochschuldidaktisches Weiterbildungs- und Beratungsangebot überregional an Dozierende und Leitungspersonen von Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen, Höheren Fachschulen und weiteren Bildungsorganisationen im Tertiärbereich.