28.05.2024
N°1 2024

Literatur

Die Welt verändern lernen

Die amerikanische Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Kulturkritikerin bell hooks (1952–2021) hat den feministischen Diskurs als Autorin und Aktivistin wesentlich mitgeprägt, seit sie mit 19 Jahren ihr erstes Buch schrieb: «Ain’t I a Woman? Black Women and Feminism». Bereits dort klang an, was sich zu einer radikalen Gesellschaftskritik entwickeln sollte, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Mit ihren Analysen zum Ineinandergreifen von Race, Geschlecht, Klasse und Sexualität – und den darauf zielenden Machtmechanismen – erfasste bell hooks vor über 40 Jahren ein Prinzip, das heute unter dem Begriff «Intersektionalität» diskutiert und teilweise als neue Perspektive vorgestellt wird.

In ihren zahlreichen Werken verwob bell hooks Gesellschaftsanalyse und Kulturkritik oft mit autobiografischen Erzählungen. Theorie sollte zugänglich sein und dazu beitragen, die Realität zu verändern. Dabei spielte Bildung eine wichtige Rolle: Mit ihrer «Teaching»-Trilogie plädierte bell hooks – die als Professorin auch selbst lehrte – für eine Pädagogik, die auf Veränderung und Transformation ausgerichtet ist. Ihr Ansatz, Bildung als Praxis der Freiheit zu begreifen, zielt auf eine Art des Lehrens und Lernens, die es ermöglicht, rassistische, sexistische und klassenbezogene Grenzen zu überschreiten.

«Die Welt verändern lernen» – oder «Teaching to Transgress», wie der Buchtitel im Original lautet –ist der erste Band der «Teaching»-Trilogie von bell hooks.

 

Blutbuch

Dieses Buch handelt von einer queeren Identitätssuche. Es veranschaulicht mit literarischen Mitteln, was Gendertheorien auf abstrakter Ebene benennen: dass die Einteilung von Menschen in zwei und nur zwei Geschlechter nicht naturgegeben, sondern eine Machttechnik und damit auch ein Korsett ist, das sich aufbrechen lässt.

Erzählt wird die autofiktionale Geschichte von einer nonbinären Ich-Figur. Diese erforscht ihr Verhältnis zu sich, ihrem Körper, ihrer Sexualität. Sie duchforstet ihre bruchstückhaften Kindheitserinnerungen. Und als die Grossmutter, eine für die Erzählung zentrale Figur, an Demenz erkrankt, weitet die Ich-Figur ihre Suche nach den eigenen Wurzeln aus und folgt der Genealogie ihrer weiblichen Vorfahren bis ins 14. Jahrhundert zurück. Was bei dieser mäandernden Suche herauskommt, ist der Versuch, eine Sprache zu finden für Erfahrungen, die verschwiegen, marginalisiert und kaum tradiert werden.

«Blutbuch» ist ein radikales Buch und eine Art persönliche Archäologie. Oder, wie der Klappentext sagt: «Dieser Roman ist ein Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l'Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.»

Kim de l’Horizon (2023): Blutbuch. Dumont Verlag.

 

Rezitativ

Die Erzählung der Nobelpreisträgerin Toni Morrison (1931-2019) war ein literarisches Experiment. Sie handelt von der Freundschaft zwischen einem schwarzen und einem weissen Mädchen und davon, wie sich Rassismus und Klassenzugehörigkeit auf persönliche Beziehungen auswirken. Das Besondere daran: Die Leserin erfährt nicht, welches der beiden Mädchen weiss und welches schwarz ist.

Roberta und Twyla lernen sich im Kinderheim kennen, werden unzertrennlich, verlieren sich aus den Augen und begegnen sich als Erwachsene zufällig wieder, im Diner, im Supermarkt, an einer Demonstration. Die beiden Frauen stehen gesellschaftlich an sehr unterschiedlichen Orten, die alte Vertrautheit ist zwar noch da, aber zwischen den Lebensentwürfen und -umständen der beiden klafft ein tiefer und kaum zu überwindender Graben.  

Mit diesem Experiment verleitet die Autorin den Leser dazu, ständig nach Indizien dafür zu suchen, welche der beiden Hauptfiguren welche Hautfarbe haben könnte – eine äusserst wirksame Methode, die Reflexion über gesellschaftliche Klischees und eigene Vorannahmen zu erzwingen: Warum hält man diese oder jene Eigenschaft, Verhaltensweise, Lebensform eher für schwarz? Oder doch eher für weiss? Worauf beruhen solche Vermutungen?

Diese Leseerfahrung bringt Zadie Smith in ihrem Nachwort auf den Punkt: «Liest man Rezitativ mit Studierenden, fühlt sich die Gruppe immer unwohler mit der eigenen Gier, diese Frage zu klären, vielleicht, weil die meisten Versuche, sie zu beantworten, mehr über die Lesenden offenbaren als über die Figuren.»

Toni Morrison (2023): Rezitativ. Rowohlt Verlag.

 

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