Learning Analytics und Erwachsenenbildung: Lebenslanges Lernen im Horizont zunehmender Datafizierung
Mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Technologien in Kontexten lebenslangen Lernens werden immer mehr Daten zu Lernenden und Lernaktivitäten generiert. Die Nutzung dieser Daten insbesondere zu didaktischen Zwecken ist der mit «Learning Analytics» formulierte Anspruch. Der Beitrag führt in das dynamische Feld lernbezogener Datenanalysen ein und fragt nach Möglichkeiten und Beispielen sowie nach Risiken und Limitationen der Datennutzung in der Erwachsenenbildung.
Datafizierung als Begleitphänomen der Digitalisierung
Mit der voranschreitenden digitalen Durchdringung vieler Lebensbereiche geht eine als «Datafizierung» (Datafication) bezeichnete Entwicklung einher, die die Zunahme der mit der Nutzung digitaler Technologie generierten und verarbeiteten Daten umschreibt. Online-Shopping, Smartphones, Fitnesstracker, «smarte» Autos, Sprachassistenten und vernetzte Alltagsgeräte (Internet of Things, IoT) sind nur einige Beispiele dafür, dass jeder Mensch bewusst und unbewusst immer mehr «digitale Fussabdrücke» hinterlässt (Breiter & Hepp, 2018). Das Phänomen der Datafizierung ist verwoben mit neuen Kapazitäten der Datenauswertung (Analytics), etwa mittels unter künstlicher Intelligenz (KI) subsumierter Verfahren wie Machine Learning. Typische Beispiele sind Kaufempfehlungen auf Shopping- und Social-Media-Plattformen oder die internetbasierte Routenplanung auf Basis aktueller Verkehrsdaten.
Den Bildungsbereich berührt diese Entwicklung in doppelter Weise: Zum einen bedarf die Datafizierung als gesellschaftsrelevantes Phänomen einer Thematisierung in Bildungsangeboten mit dem Ziel eines kritisch-reflexiven Bewusstseins für den kompetenten Umgang mit Daten (Data Literacy). Zum anderen betrifft die Datafizierung auch den Bildungsbereich selbst infolge zunehmender Verbreitung digitaler Technologien in Lehr-/Lernkontexten, wovon etwa die prosperierende EdTech-Branche Zeugnis gibt. Mit Schlagworten wie Big Data und KI verbinden sich (auch) im Bildungsbereich teils grosse Erwartungen – etwa bezüglich einer Personalisierung des Lernens –, die Fragen nach dem disruptiven Charakter bildungstechnologischer Entwicklungen verstärken (für die Erwachsenenbildung vgl. z.B. Dreisiebner & Lipp, 2022; Grotlüschen, 2018).
Die seit etwa 2010 unter dem Begriff «Learning Analytics» gefasste Auseinandersetzung mit den Potenzialen der Nutzung von lernbezogenen Daten steht noch am Anfang und schenkte der Erwachsenenbildung bislang wenig Aufmerksamkeit, obschon sich gerade im Erwachsenenalter Fragen nach individuellen Lernbedürfnissen in besonderer Weise stellen. International finden sich nur wenige Beispiele für Learning Analytics in der Erwachsenenbildung (z.B. Jo, Kim & Yoon, 2015; Van Laer & Elen, 2020), oft handelt es sich dabei um Piloterprobungen und keine auf Dauer angelegten Praxisimplementierungen (Ruiz-Calleja et al., 2021). Im erwachsenenpädagogischen Fachdiskurs wurde das Thema nur vereinzelt und eher randständig aufgegriffen (aktuell z.B. Gugitscher & Schlögl, 2022; Rohs & Bernhardsson-Laros, 2022). Dies wird hier zum Anlass genommen, sich Learning Analytics im Kontext der Erwachsenenbildung zuzuwenden. Ausgehend von einer Darlegung zentraler Wesenszüge von Learning Analytics werden Möglichkeiten der Datennutzung im Feld der Erwachsenenbildung beleuchtet und kritische Perspektiven aufgeworfen, ehe der Beitrag mit einem (vorläufigen) Fazit schliesst.
Gegenstand und Grundlagen von Learning Analytics
Mit Learning Analytics findet der bereits in andere Lebensbereiche vorgedrungene Analytics-Ansatz – als Erschliessung und Vernetzung volumenstarker Datenquellen mit statistischen Verfahren – Eingang in pädagogische Kontexte. Der damit verbundene Anspruch wird wie folgt umrissen: «Learning analytics is the measurement, collection, analysis and reporting of data about learners and their contexts, for purposes of understanding and optimising learning and the environments in which it occurs» (Long und Siemens, 2011, S. 34; für weitere Definitionsangebote vgl. Scheidig, 2021a, S. 171f.). Der Fokus richtete sich dabei bislang vor allem auf den Hochschulkontext, und zwar u.a. mit der Zielsetzung, neue Einblicke in das Lernverhalten zu gewinnen, Studierende bedarfsgerecht mit Lernangeboten, Empfehlungen und Feedback zu unterstützen, Hindernisse, kritische Lernverläufe und abbruchgefährdete Studierende frühzeitig zu erkennen und verschiedenen Personengruppen – von der Lehrenden- bis zur institutionellen Leitungs- und bildungspolitischen Ebene – handlungsrelevante Informationen zur Verfügung zu stellen. Stehen nicht konkrete Lehr-/Lernsettings im Zentrum (Learning Analytics im engeren Sinne), sondern primär organisationsbezogene oder -übergreifende Aspekte wie Dropout-Quoten und Ressourceneinsatz, so ist auch von «Academic Analytics» die Rede (Scheidig, 2021b).
Grundlage von Learning Analytics bilden statische und dynamische Daten zu Lernenden (z.B. Soziodemografie), Lernkontexten (z.B. Curriculum), Lernprozessen (z.B. Verhalten in Online-Lernumgebungen) und Lernerträgen (z.B. Lernleistungen). Es handelt sich dabei um maschinell lesbare bzw. computerbasiert verarbeitbare Daten, die oftmals bereits vorliegen, etwa in Lern- und Prüfungssoftware oder Campusmanagementsystemen erfasst werden. Die Analyse dieser Daten kann retrospektiv erfolgen (z.B. Berichte), in Echtzeit (z.B. Empfehlungen) oder in die Zukunft weisen (z.B. Prognosen). Die eingesetzten Verfahren der Datenverarbeitung reichen von der Datenvisualisierung (z.B. in Dashboards) über soziale Netzwerkanalysen bis hin zu Data-Mining, wobei konventionelle statistische Verfahren (bislang) häufiger zum Einsatz kommen als KI (Scheidig & Holmeier, 2021, S. 218f.). Wenngleich sich innerhalb weniger Jahre an der Schnittstelle verschiedener Disziplinen ein abgrenzbarer Diskurszusammenhang zu Learning Analytics mit eigenen Fachforen entwickelte – in dem auch ethische Aspekte und Datenschutz sichtbar Raum einnehmen –, besitzen viele Anwendungen noch Explorationscharakter. Die Auseinandersetzung mit den Potenzialen von lernbezogenen Datenanalysen scheint erst am Anfang zu stehen, was u.a. auch daran ersichtlich wird, dass Bildungsbereiche wie die Erwachsenenbildung bislang keine nennenswerte Beachtung fanden.
Learning Analytics in der Erwachsenenbildung
Bezüglich möglicher Einsatzszenarien für Learning Analytics in der Erwachsenenbildung verdient zuvorderst deren Pluralität Berücksichtigung: Angesichts der vielfältigen Anbieter- und Angebotslandschaft – von öffentlich geförderten Anbietern über global agierende NGOs bis zu kommerziell orientierten Privatunternehmen, vom beruflichen Training über den Tanzkurs bis zum philosophischen Gesprächskreis – können Potenziale der Datennutzung nicht pauschal, sondern nur kontextspezifisch beurteilt werden. Die Erschliessung von Daten im Sinne von Learning Analytics erstreckt sich prinzipiell nur auf jene Bereiche, in denen relevante Daten generiert werden (können). Dies trifft auf viele Erwachsenenbildungsaktivitäten derzeit nicht zu, etwa Face-to-face-Interaktion, die nicht durch digitale Medien vermittelt ist oder erfasst wird. Zu denken ist auch an informelle Lernprozesse, z.B. arbeitsplatzbezogene Lernaktivitäten in Umgebungen, deren primärer Zweck nicht das Lernen ist (Ruiz-Calleja et al., 2021). Insgesamt darf für die Erwachsenenbildung aufgrund ihres offenen, lebensbegleitenden Charakters eine deutlich geringere Datenverfügbarkeit und -interoperabilität angenommen werden als beispielsweise im relativ geschlossenen System der Hochschulbildung. Erwachsenenbildung ist weder an eine Einrichtung noch an ein Curriculum gebunden und zudem oftmals nicht abschlussbezogen. Viele Einsatzszenarien von Learning Analytics, die primär vor dem Hintergrund hochschulischen Lehrens und Lernens elaboriert werden, können nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Erwachsenenbildung adaptiert werden, da strukturell wie technisch das Pendant fehlt (z.B. Identifizierung von abbruchgefährdeten Lernenden auf Basis engmaschiger Lern- und Prüfungsdaten).
In Anbetracht der Vielfalt der Lernkontexte Erwachsener, die oftmals auch nicht oder nur teilweise digital durchdrungen sind, sowie der unzähligen in den Alltag eingebetteten Lerngelegenheiten sollte also Perspektiven, die in Aussicht stellen, dass Lernprozesse im Kontinuum des Lebens lernkontextübergreifend datenbasiert abgebildet werden («Lifelong Learning Analytics», Pham & Klamma, 2013), mindestens mit Skepsis begegnet werden. Jenseits aller anwendungspraktischen Vorbehalte (Lernaktivitäten ohne Datenspuren, mangelnde Datenstandards, fehlende übergeordnete Instanz usw.) erscheint der Anspruch einer lebensbegleitenden Datenspeicherung und -vernetzung auch unter pädagogischen, ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten fragwürdig (McNamara, 2018), und zwar erstens im Hinblick auf diskontinuierliche Lernprozesse und offene Bildungsbiografien sowie zweitens wegen des Gebots der Datensparsamkeit und des Rechts auf Vergessenwerden. Demgemäss kann für die Erwachsenenbildung vorrangig eine lernkontextspezifische Nutzung von Daten verfolgt werden, also im Rahmen einer Einrichtung oder einer digitalen Lernumgebung. Dies illustrieren auch die nachfolgenden Anwendungsbeispiele.
Learning Analytics auf mikrodidaktischer Ebene
Im Hinblick auf die mikrodidaktische Ebene rücken mit Learning Analytics digitale Lernumgebungen ins Zentrum, in denen Daten zu Lernaktivitäten generiert werden. Typische Beispiele sind Learning Management Systeme (LMS), die u.a. in Fremdsprachen- und Alphabetisierungskursen Verwendung finden und die Zeitpunkte, Dauer und Häufigkeit des Zugriffs auf die Lernumgebung, die Interaktion mit Lernmaterialien und anderen Teilnehmenden sowie Leistungen der Lernenden erfassen. Auch wenn diese Daten (z.B. die investierte Zeit, «time on task») keine qualitativen Einsichten in das Lernen vermitteln, gewähren sie durchaus relevante Einblicke in die Nutzung von Lernressourcen und können zum Ausgangspunkt für Feedback (z.B. zu Lernfortschritten und -problemen) oder für die Gestaltung künftiger Lernangebote genommen werden (für Nutzungsbeispiele in der Erwachsenenbildung vgl. z.B. Jo et al., 2015; Van Laer & Elen, 2020). Vergleichbare Daten werden auch in MOOCs (Massive Open Online Course) generiert; Ebner et al. (2018) illustrieren beispielsweise Möglichkeiten der Datenauswertung anhand einer Durchführung des «EBmooc» für Erwachsenenbildner*innen, bei dem für ca. 3000 Teilnehmende innerhalb von sechs Wochen rund 200’000 Lernaktivitäten geloggt wurden. Auch Apps, Touchdisplays bzw. interaktive Informationstafeln, Audioguides und AR-/VR-Anwendungen (Augmented Reality, Virtual Reality), wie sie einige Museen, Science Center und Gedenkstätten anbieten, können als Datenquellen fungieren, um z.B. zu analysieren, welche Themenbereiche die Adressat*innen in gehobenem Masse interessieren und ob bzw. in welcher Weise die bereitgestellten digitalen Angebote eine Nutzung erfahren.
Neben diesen nichtinvasiven Datennutzungsszenarien können auch Daten zu Lernprozessen eigens erhoben werden. So haben z.B. Yun et al. (2019) ein Szenario unter Einsatz von Wearables – also am Körper getragener Technologie wie Smartwatches – entwickelt, das in Trainings für Rettungskräfte zum Einsatz kommen kann: Die Lernenden agieren in einem Serious Game, in dem Notfälle realitätsnah simuliert werden, und das Schwierigkeitsniveau wird anhand der situativ gemessenen Herzfrequenz adaptiv angepasst. Des Weiteren können verschiedene Datenquellen verknüpft werden, um das limitierte Bild über Lernaktivitäten, das beispielsweise LMS-Daten liefern, zu erweitern. Viertel, Krieter & Breiter (2021) haben beispielsweise für die Analyse non-formaler Musikkurse ergänzend zu LMS-Logdaten auch Systemdaten und Bildschirmvideos von Tablets ausgewertet, die den Lernenden zur Verfügung gestellt und für Lernaktivitäten ausserhalb des LMS genutzt wurden.
Die genannten Einsatzszenarien für Learning Analytics erfordern eine Datenverarbeitung (sofern keine Datenaufbereitung, z.B. via Visualisierung, programmiert ist) und -interpretation aufseiten der für das Lernangebot Verantwortlichen. Die Daten bedürfen also einer didaktischen Bedeutungszuschreibung. Abzugrenzen hiervon sind Lernumgebungen, die ein hoher Automatisierungsgrad der Verarbeitung lernbezogener Daten kennzeichnet und die auch ausserhalb organisierter Bildungsangebote Verwendung finden. Zu nennen sind hier insbesondere adaptive Lernsysteme (z.B. die Sprachlern-App Duolingo), die Lerneinheiten bzw. -pfade mittels automatisierter Datenanalyse in Echtzeit personalisieren, und zwar einerseits basierend auf einem domänenspezifischen Lernmodell und andererseits abhängig von individuellen Lernfortschritten und Präferenzen der Lernenden (Biel et al., 2019). Dies ist etwa mit Blick auf die Herausforderung, der Heterogenität erwachsener Lerner gerecht zu werden, von Interesse. Zugleich sind adaptive Lernsysteme wie Apps zum Fremdspracherwerb auch in informellen Lernkontexten zu verorten, die ohne professionelles pädagogisches Handeln auskommen und im konkreten Fall durch Algorithmen geleitet werden. Ein aktuelles und genuin im Feld der Erwachsenenbildung positioniertes Beispiel für adaptive Lernsysteme stellt das Verbundprojekt KUPPEL unter Leitung des Deutschen Volkshochschul-Verbands (DVV) dar, in dessen Rahmen eine KI-unterstützte Lernumgebung für Erwachsenenbildungspersonal entwickelt wird, die auf Basis individueller Voraussetzungen und Präferenzen einen personalisierten Erwerb von digitalen Kompetenzen ermöglichen soll. Neben diesen Szenarien, die sich auf das Erfassen von Lernaktivitäten zentrieren, können Daten auch im Zusammenhang mit der formativen oder summativen Lernstandsdiagnostik verarbeitet werden, z.B. für eine Einstufung des Fremdsprachniveaus oder für adaptives Testen, bei dem das Schwierigkeitsniveau individuell angepasst wird. Diesen Beispielen, die nicht generisch, sondern inhaltsspezifisch automatisierte Auswertungen vornehmen, ist die Einschränkung gemein, dass sie – zumindest gegenwärtig – gut formalisierbare Lerninhalte voraussetzen, die sich in strukturierte Lerneinheiten sequenzieren lassen. Nur bedingt strukturierbare Lerninhalte sowie Aufgaben auf hohen Lernzieltaxonomiestufen (z.B. Beurteilen, Entwickeln) eignen sich demgegenüber kaum für solche datengestützten Anwendungen.
Datenanalysen auf mesodidaktischer Ebene
Oberhalb der Ebene konkreter Angebote und Lernsituationen können Daten beispielsweise auf der mesodidaktischen Ebene funktionalisiert werden, z.B. zur Analyse der Programmrezeption. Durch die Tendenz, dass immer mehr Erwachsenenbildungsanbieter Online-Programme statt oder ergänzend zu Programmheften offerieren (Käpplinger, 2021), können auf Basis von Website-Daten neue Einsichten gewonnen werden, beispielsweise ob und mit welchen Strategien Angebote gezielt gesucht werden, wie das (im Gegensatz zu gedruckten Programmen) nichtlinear dargestellte Programm «erkundet» wird, welche und wie viele Veranstaltungsangebote sich Personen mit unterschiedlichen inhaltlichen Interessen ansehen und wann sie das Programm verlassen («Absprungseite»), in welchem Verhältnis je nach Veranstaltungsangebot Seitenzugriffe und Anmeldungen stehen usw. Die durch solche Analysen gewonnenen Erkenntnisse können z.B. Auskunft zu Lernbedürfnissen und diesbezüglichen Mustern geben oder in die Optimierung der Beschreibung und Darstellung von Online-Angeboten einfliessen. «Sollten Hinweise à la ‹Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…› die neue Form des Auftritts von Weiterbildungseinrichtungen sein?» (Käpplinger, 2021, S. 39) – Prinzipiell wären solche Echtzeit-Empfehlungen auf Basis der Daten zur Programmrezeption möglich.
Auch die im Buchungssystem einer Erwachsenenbildungseinrichtung hinterlegten Daten der für Veranstaltungen angemeldeten Personen sind potenziell eine Ressource für Auswertungen zu Soziodemografie und Interessenprofilen von Teilnehmenden und können u.a. für Marketingzwecke und die Zielgruppenansprache genutzt werden. Welche Personengruppen werden (weniger) erreicht? Wo wohnen die Teilnehmenden (nicht)? Für wen könnte welches Angebot von Interesse sein?). Ein Beispiel dafür, wie bereits heute verschiedene Daten für individuelle Angebotsempfehlungen genutzt werden, ist die kommerziell orientierte Plattform LinkedIn Learning; diese bietet über 16’000 Online-Kurse vom Erwerb von Soft Skills bis zum Erlernen einer Programmiersprache mit Zertifikatsabschluss an und unterbreitet u.a. basierend auf den Berufsprofilen der Millionen weltweiten Nutzer*innen des Berufsnetzwerks LinkedIn mit Angaben zu Beruf, Lebenslauf, Kompetenzen, Interessen individuelle Weiterbildungsvorschläge (Hansch, Dörich & Rohwerder, 2021; Grotlüschen, 2018). Einen Schritt weiter soll das ambitionierte Vorhaben der Nationalen Bildungsplattform in Deutschland gehen, die zurzeit als Metaplattform zur breiten Vernetzung digitaler Lernangebote entwickelt wird und 2023 gelauncht werden soll: «Angepasst an die aktuelle Lebenslage, individuell und flexibel über alle Altersstufen und Bildungsbereiche hinweg soll es ermöglicht werden, sich ungehindert durch die verschiedenen digitalen Bildungsangebote und -formen zu bewegen.»1 Es verdient Aufmerksamkeit, wie die Plattform künftig Daten von Lernenden und zu Lernprozessen bei unterschiedlichsten Anbietern (!) für die geplante individuelle «Data Wallet» der Nutzer*innen erfassen und – so ein formuliertes Ziel – für personalisierte Empfehlungen zu Lernangeboten verarbeiten wird.
Kritische Perspektiven
Mit Learning Analytics verbinden sich verschiedene Vorbehalte, u.a. bezüglich des Datenschutzes. Die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorgaben ist elementar, z.B. Transparenz, Rechtmässigkeit, Vertraulichkeit der Datenverarbeitung sowie die Wahrung der informationellen Selbstbestimmung der «Datensubjekte», damit einhergehend die Auskunftspflicht über die Zweckgebundenheit von Datenanalysen. Rechtliche und organisatorische Anforderungen des Datenschutzes gelten für die bestehenden Datenquellen jedoch auch bei einem Verzicht auf Learning Analytics (Scheidig & Holmeier, 2021). Daneben treten begründete ethische Bedenken, etwa dass (auch bei rechtskonformer Datenverarbeitung) metrische Dispositive und Normierungstendenzen, Gefühle der Überwachung und sozialer Druck erzeugt werden könnten. Dies kann wiederum das Verhalten der Lernenden beeinflussen (für die Erwachsenenbildung vgl. Viertel et al., 2021). Die Technikfolgenabschätzung liesse sich aber auch unter konträren Vorzeichen artikulieren: Inwieweit ist es vertretbar, das Potenzial bereits vorliegender Daten als Impulsgeber für Weiterentwicklungen nicht zu heben (bewusster Informationsverzicht)? Wie auch andere ethische Herausforderungen der Digitalisierung in der Erwachsenenbildung (vgl. Rohs & Bernhardsson-Laros, 2022) verlangt dies eine wertebasierte Abwägung.
Problematisch ist des Weiteren, dass Daten nur vermeintlich objektiv und neutral sind (Breiter & Hepp, 2018), in Algorithmen sind Normvorstellungen und Interessen, mitunter auch Diskriminierung eingeschrieben (Beck et al., 2019). Sowohl Daten als auch auf ihnen basierende Analysen können fehlerhaft sein sowie falsche Schlüsse nahelegen. Ohnehin leuchten sie aufgrund der Beschränkung auf datengenerierende Aspekte nur Ausschnitte der Bildungspraxis aus, was auf ein Grundproblem verweist: Der Erkenntnishorizont von Learning Analytics entfaltet sich weniger entlang pädagogischer Fragen als vielmehr entlang verfügbarer Daten. Auch der Fachdiskurs ist bislang nur rudimentär bildungswissenschaftlich fundiert und primär technikgetrieben (Scheidig, 2021a). Im Fokus stehen in der Tendenz quantitative Analysen (Häufigkeit, Wahrscheinlichkeit, Korrelation usw.) auf Basis von Daten zum Verhalten von Lernenden, was im nicht unbegründeten Vorwurf gipfelt, Learning Analytics sei aufgrund der Fokussierung auf sicht- bzw. messbare Handlungen behavioristisch. Es steht im Spannungsverhältnis zum Anspruch, Lernen besser zu verstehen und zu optimieren (Long & Siemens, 2011), dass Learning-Analytics-Anwendungen in der Regel gerade keine qualitativen Einsichten etwa zur Erklärung des Lernverhaltens liefern und wirksame Verbesserungen nicht direkt abgeleitet werden können, sondern einer pädagogisch informierten Dateninterpretation bedürfen (Scheidig, 2021b, S. 189f.).
Die Kritik an Learning Analytics setzt auf verschiedenen Ebenen an, besitzt aber nicht für alle Anwendungsszenarien die gleiche Relevanz. Prototypischer Fluchtpunkt kritischer Einwände sind Szenarien, bei denen durch Verarbeitung (sensibler) personenbezogener Daten einzelne Lernende beobachtet werden und auf Basis von (intransparenten) Algorithmen Feedback oder Empfehlungen erhalten. Die Kritik verfängt jedoch weniger bei Datenanalysen, die auf aggregierten oder anonymisierten Daten fussen, z.B. Analysen auf Programmebene, die nicht einzelne Lernende adressieren, sondern primär die Angebotsebene oder andere einrichtungsbezogene Aspekte.
Fazit
Begünstigt durch den zunehmenden Einsatz digitaler Technologien in Lehr-/Lernprozessen sowie auf organisationaler Ebene hat das im Kontext der Erwachsenenbildung generierte Datenvolumen zugenommen, und diese Entwicklung dürfte sich auch künftig fortsetzen. Diese Daten erfassen jedoch nur Ausschnitte der pluralen, vielschichtigen Lernkontexte und lernbezogenen Handlungen; ihre Erschliessung ist – auch organisatorisch – anspruchsvoll und mit rechtlichen und ethischen Grenzen verknüpft (Scheidig & Holmeier, 2021). Trotz dieser Limitationen und begrenzten Aussagekraft wohnt den zumeist beiläufig generierten Daten zu Lernenden und Lernprozessen das Potenzial inne, relevante Einsichten in Erwachsenenbildungspraxis zu gewähren, die für verschiedene Tätigkeitsbereiche in der Erwachsenenbildung in unterschiedlicher Weise Informationsgehalt beanspruchen können, etwa für Programmplanung, Lehrhandeln, Beratung, Marketing, Evaluation und Qualitätsmanagement. Die Nutzbarmachung der oftmals bereits vorhandenen Daten setzt – neben der Akzeptanz unter Lernenden (dies vor allem, soweit sie personenbezogen ist) – auch die Akzeptanz von jenen voraus, die Lernangebote auf der Meso- oder Mikroebene verantworten. Dabei entbindet auch ein Verzicht auf Learning Analytics Erwachsenenbildungsanbieter nicht vom kompetenten Umgang mit Daten, insbesondere im Hinblick auf Anforderungen des Datenschutzes und der Datensicherheit, z.B. bei der Wahl und Konfiguration von Software, der Formulierung von Nutzungsbestimmungen und dem Umsetzen einer institutionellen Datenpolicy (Scheidig & Holmeier, 2021).
Es gilt, sowohl das erwachsenenpädagogische Personal als auch Lernende zu einem souveränen und sensiblen Umgang mit Daten zu befähigen (Data Literacy) sowie eine reflektierte und selbstreflexive Urteilsbildung bezüglich der neuen Möglichkeiten der Datenverarbeitung und deren Implikationen zu fördern. Dies umschliesst neben dem Verständnis dafür, wann welche Daten erfasst und verarbeitet werden, auch ein Bewusstsein ebenso für die Potenziale wie für die Risiken und Limitationen der Nutzung von Daten (auch) in Lernkontexten. Nicht zuletzt besitzt das Thema Learning Analytics für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Erwachsenenbildung Relevanz, und zwar einerseits aus forschungsmethodischer Sicht als bislang weitgehend ungenutzter und überwiegend nonreaktiver Feldzugang (Breiter & Hepp, 2018) zur datengestützten Vertiefung erwachsenenpädagogischer Fragen und andererseits dahingehend, dass Wissenschaft als Reflexionsinstanz Entwicklungen im Praxisfeld begleiten sollte – gerade auch, wenn diese feldextern wie etwa durch globale EdTech-Unternehmen impulsiert werden.
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Prof. Dr. Falk Scheidig hat seit April 2022 die Professur für Lebenslanges Lernen unter besonderer Berücksichtigung des non-formalen und informellen Lernens an der Ruhr-Universität Bochum inne. Kontakt: falk.scheidig@rub.de