Kulturelle Bildung oder Herrschaft der Technik?
Wir sind genötigt, ein ganzes Leben lang zu lernen. Wofür eigentlich? Um im Berufsalltag mit den Maschinen zurechtzukommen oder um uns besser zu verstehen? Am Ursprung der Erwachsenenbildung stand die Vision einer kulturellen Weiterbildung, die das Individuum formt. Heute liegt sie im Schatten einer umfassenden Digitalisierungsoffensive, die den Bildungsbereich umpflügt. Zeit, dass wir Licht machen.
Als Präsident der Schweizerischen Volkshochschulen schwelge ich manchmal in Träumen, wie sich unsere Mitglieder und unser Angebot entwickeln könnten. Dann sehe ich vor meinem inneren Auge eine Schweiz, gespickt mit Philosophieseminaren, durchzogen von historischen Exkursionen, gepunktet mit Literatur-, Kunst-, Musikkursen, aber auch solchen in Technik, Medizin, Psychologie, Gesellschaftstheorie, Medienkritik. Es wird eifrig diskutiert, gefragt, erwogen, ausgedacht und verworfen, Jung und Alt feuern sich an. Das Anspruchsniveau ist hoch, irgendwo zwischen Qualitätsjournalismus und Akademia. Befeuert wird das Ganze von einer Art Euphorie des Verstehens. Wie funktioniert, was uns umgibt? Wie funktionieren wir in dem, was uns umgibt? Was macht es mit uns, was wir mit ihm?
Manchmal aber plagen mich Alpträume, meistens, wenn ich parlamentarische Bildungs- oder Wirtschaftsdebatten verfolge. Deren schlimmster: Die Roboter haben nicht nur Dozenten und Kursleiter verdrängt – das gibt es ja bereits –, sondern auch die Schüler und Studenten, ob jung oder alt. Maschinen unterrichten Roboter. Roboter bilden smarte Geräte in den neusten Entwicklungen der künstlichen Intelligenz weiter. Und das Volk, was tut es? Es fährt an den Strand oder guckt Netflix.
Wenn mich jemand fragen würde, welches der beiden Szenarien eher eintritt, dann würde ich tief einatmen und sagen, das – zweite. Nun fehlt mir jeder maschinenstürmerische Zug. Im Gegenteil, ich bin vom Segen der digitalen Technologie überzeugt. Sie erleichtert meinen Alltag genauso wie jenen der vielen da draussen. Skeptisch stimmt mich die Politik, insbesondere die Bildungspolitik, die in eine Digitalisierungseuphorie geraten ist und die beschleunigte Adaption digitaler Technologien auf allen Stufen propagiert. Eben haben ETH und UBS einen 40-Millionen-Deal unterzeichnet, der mehr Jugendliche in die MINT-Fächer bringen soll (NZZ, 26.8.2022). Warum gibt es keine solchen Deals für die Geisteswissenschaften? Weil, so das Mantra, die Schweiz sich in einem globalen Rennen befindet, das sie mithilfe von IT und Start-ups gewinnen kann. Bildungspolitik, so wohlformuliert das Menschenbild daherkommt, das sie vertritt, reduziert sich in der Praxis auf das Wohlstandsmantra. Alles dient der Produktivitätssteigerung. Es entsteht eine neue Avantgarde. Wenn im Silicon Valley die Fünfjährigen in Sommercamps geschickt werden, damit sie frühzeitig programmieren lernen (NZZ, 19.8.2022), dann zeichnet sich hier ein neues Klassenbewusstsein ab – jenes der digitalen Elite. Damit kulminiert eine Entwicklung, die zu verhindern die Weiterbildung vor einem Jahrhundert angetreten war.
Der selbstverantwortliche Mensch
Die Reformation hat der Idee von Bildung für alle grossen Schub verliehen. Die Reformation war eine Revolution des Wortes, gegen das römische Christentum, das sich auf die Sinne – heute würde man sagen: Immersion – verliess. Mit der Reformation griff die Vorstellung, dass die Menschen lesen und schreiben und vielleicht auch rechnen können sollten, um sich. Diese Vorstellung hat sich im modernen Begriff der Grundkompetenzen konserviert. Dass sich daraus eine protestantische Arbeitsethik entwickeln würde, die Arbeit zum Gottesdienst verherrlichen und Erfolg wie Reichtum als Hinweis auf das Auserwähltsein umdeuten würde, konnten weder Luther noch Zwingli noch Calvin voraussehen. Max Weber hat das in seiner legendären Studie von 1904/1905 «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» überzeugend nachvollzogen.
Für die Reformatoren lag der Sinn der menschlichen Existenz in der Gottgefälligkeit, nicht in der Entfaltung. Es ging ihnen um Unterweisung, nicht um die Befreiung des Individuums. Menschen, die lesen können, sind näher am Wort Gottes, an der unverrückbaren Wahrheit.
Damit die Idee von Bildung als Entfaltung des Menschen wirksam werden konnte, brauchte es die Aufklärung. Sie erst erfand die Vorstellung vom Individuum, vom Einzelnen mit gleichen Rechten, und befreite es von den Ketten des bäuerlichen, handwerklichen oder aristokratischen Standes. Sie übergab ihn der Freiheit, die er selbst zu gestalten hatte. Diese Befreiung ins Nichts, die auch eine Lösung aus den Ketten der Religion war, bildete die Voraussetzung für den kapitalistischen Umbau der Gesellschaft. Die neuen Fabriken, die dank des wissenschaftlichen Fortschritts aus dem Boden schossen, benötigten Arbeiterinnen und Arbeiter. Es waren die verarmten Landbewohner und Handwerker. Die Radikalität der Umschichtung führte zu unvorstellbarem Elend im neuen Proletariat, das zu unmenschlichen Bedingungen und ohne Schutz in den Dreckschleudern der Industrie oder in Heimarbeit schuftete. Bildung blieb ein Privileg des Bürgertums.
Es brauchte ein weiteres Jahrhundert, bis die Vorstellung sich durchsetzte, dass Bildung ein dynamischer Prozess sei, der mit dem Erwerb der Grundkompetenzen und der Funktionalisierung für die Arbeitswelt nicht abgeschlossen sei. Es gab Wegbereiter dieser sich abzeichnenden Erwachsenenbildung. Einer der bedeutendsten war Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827). Seine Vorstellung einer naturnahen Bildung, die Kopf, Herz und Hand, also Intellekt, Gemüt und praktische Begabung gleichermassen entwickelte, übte einen gewaltigen Einfluss auf die europäischen Bildungstheoretiker seiner Zeit aus. Pestalozzi engagierte sich über das «Helvetische Volksblatt» auch für die Erwachsenenbildung. Seinen eigenen Bildungsinitiativen war allerdings kein Erfolg beschieden.
Doch der Same war gesetzt. Allenthalben schossen Lesegesellschaften aus dem Boden. Es folgten 1810 die Gründung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, die sich der Armutsbekämpfung verschrieb, nicht zuletzt mithilfe von Bildung für Erwachsene. 1838 entstand der Grütliverein mit einer «freien Männerschule», die Unterricht in musischen Fächern und Staatskunde erteilte. 1839 wurde die erste Arbeiterakademie in Genf gegründet, die 1900 in die Université Ouvrière überführt wurde (Furrer 2013). 1888 wurde der Schweizerische Gemeinnützige Frauenverein gegründet, der sich der Mütterschulung widmete, 1904 folgte der Schweizerische Katholische Volksverein, der sich der Förderung von Wissenschaft und Kunst im Geiste der katholischen Lehre verschrieb. Gleichzeitig fanden in Deutschland die ersten Volkshochschultage statt und setzte der Boom der Volksbildungsvereine ein. Gegen 8’000 solcher Vereine entstanden bis 1913. Jetzt war es am Einzelnen, die Chance zu nutzen. Die Barrieren lagen tief.
Das sind nur ein paar Schlaglichter auf eine Entwicklung, die das 19. Jahrhundert prägte und den negativen Auswirkungen der forcierten Industrialisierung entgegenwirkte. Es brauchte die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, um die Idee einer kulturellen Allgemeinbildung, losgelöst von Unterweisung oder Politisierung, reifen zu lassen. Die Universitäten experimentierten bereits im 19. Jahrhundert mit Kursen für das Volk, ganz im Sinne der englischen University Extensions. Um die Jahrhundertwende kristallisierte sich die Idee einer eigenständigen Einrichtung heraus: die Volkshochschule als Abendschule. Die Weimarer Republik setzte sie 1919 sogar in die Verfassung: «Das Volksbildungswesen, einschliesslich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.» (Schneider 2019) Das führte zu einem Boom, der in Deutschland bis 1920 174 Volkshochschulen entstehen liess. Die Bewegung griff auch auf die Schweiz über. 1919 wurden die Volkshochschulen Basel, Bern, Luzern, 1920 jene von Zürich gegründet.1 Voraussetzung für den Erfolg war eine Revision des Arbeitsrechts: die Reduktion der Wochenarbeitszeit von 60 auf 48 Stunden, erzwungen durch den Landesstreik 1918 und ab 1920 umgesetzt, sowie eine politisch neutrale Trägerschaft. Beispielhaft vollzog Zürich diesen Schritt. Der Regierungsrat wünschte eine Volkshochschule, viele der existierenden Volksbildungsinitiativen beanspruchten den Status. Mit sanftem Druck zwang die Regierung sie alle in eine gemeinsame neutrale Trägerschaft, den «Zentralausschuss» (Wiederkehr 2020, S. 17). Nun also hiess es: 8 Stunden Arbeit, 2 Stunden Schulbank – das Lebensmotto der industriellen Moderne.
Die Idee der Volkshochschule, also einer an Erwachsene gerichteten Bildungseinrichtung, die Theorie und Praxis, Wissen und Lebensfragen verband, geht auf Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783–1872) zurück. Der dänische Theologe, Politiker und Volkspädagoge richtete Mitte des 19. Jahrhunderts seine erste Heimvolkshochschule ein. Hier lebten Schüler und Lehrer rund um die Uhr zusammen und entwickelten gemeinsam ihr Verständnis der Welt. Das Modell war in Skandinavien sehr populär und erreichte auch Norddeutschland. Der Thurgauer Fritz Wartenweiler (1889–1985), seinerseits Schriftsteller, Pädagoge und Volkserzieher, versuchte das Modell der Heimvolkshochschule in der Schweiz zu popularisieren. Er doktorierte über Grundtvig und richtete 1919 das Volksbildungsheim Nussbaum in Frauenfeld und 1935 den Herzberg in Densbüren ein. Das Modell setzte sich nicht durch, es mangelte der arbeitsamen Schweiz an der Idee des Bildungsurlaubs.
Das Monopol auf kulturelle Weiterbildung
Die Volkshochschulen verfügten zu Beginn über ein Quasi-Monopol in dem, was wir heute kulturelle Erwachsenenbildung nennen. «Erwachsenenbildung verstand sich … als Element zur Kultivierung eines Selbst, das seinen Platz innerhalb eines Lebenskreises oder einer Schicht schon gefunden hatte, das diesen Platz allerdings reflektierter und kultivierter einnehmen und im Dialog mit anderen Erwachsenen die Relativität seiner eigenen Position erkennen sollte.» (Seitter 2007, S. 137) Das ist die deutsche Formel im kritischen Rückblick. Die Schweizer sahen es etwas politischer. «[Die] Volkshochschulen verstanden sich als bürgerliche Integrationsinstrumente für die Arbeiterklasse und waren einer national überhöhten Gemeinschaftsidee verpflichtet. Dementsprechend bestand das erklärte Ziel in der Stärkung der demokratischen Urteils- und Entscheidungsfähigkeit der Teilnehmenden und der Vermittlungstätigkeit zwischen Wissenschaft, Universität und den unteren Volksschichten; die politisch und religiös neutralen Volkshochschulen sollten allen Bevölkerungsgruppen zugänglich sein», fasst Furrer im Historischen Lexikon der Schweiz die Bildungsvision zusammen (Furrer 2013). Es war, wenn man so will, das Gegenprogramm gegen die Unterwerfung unter die Maschinen, wie sie sich im Zuge der Industrialisierung ankündigte. Soziale Mobilität als Mittel für Zufriedenheit – Weiterbildung als bürgerliche Akkulturation – hiess die Brücke, über die dieser Integrationsprozess erfolgen sollte und die Befreiung vom Fliessband.
Er war in einem pathetischen Sinne durchaus für alle gedacht: «Wir Menschen müssen wieder zueinander finden, müssen uns unserer solidarischen Verpflichtung wieder bewusst werden… Das setzt die Beseitigung trennender Schranken voraus sowie die Auffüllung der Gräben, die sich zwischen Klassen und Schichten der Menschheit gebildet haben. Die Bruderhand gemeinsamer Arbeit muss hinüberreichen über die Unterschiede – auch der Bildung. Gerade die Bildung darf nicht mehr Sondervorrecht bevorzugter Stände sein», schrieben die Veranstalter der Zürcher Volkshochschulkurse 1919 (NZZ, 14.10.1919), ein knappes Jahr vor der Gründung der VHS.
Dieses Konzept als kulturelle Allgemeinbildung zu bezeichnen, macht Sinn, weil es sich um kulturelle Fragen im breiten Sinne dreht. Bildung in wissenschaftlichen Fächern galt als Einblick in ein universales Wissen, das unsere Gesellschaft zusammenhält und die bürgerliche Existenz grundiert. Dazu gesellten sich Lebenspraxis, viel Anschauung und der Einblick in die Künste.
Diesem bürgerlichen Integrationsmodell stand das gewerkschaftliche Ermächtigungsmodell gegenüber. Es verstand Weiterbildung als Emanzipationsprozess der Arbeiterklasse, an dessen Ende nicht der individuelle, sondern der Klassenstatus sich verbessern sollte. Die Arbeiterbildung entwickelte sich mit der wachsenden Arbeiterklasse, wandelte sich vom Emanzipationsmodell aber zur heute typischen beruflichen Weiterbildung. In der bürgerlich beherrschten Schweiz der 1920er Jahre setzte sich das Integrationsmodell durch. Es fand, da nicht revolutionär grundiert, breiten politischen Support. Damit war der Weg frei für die Volkshochschulen als Einrichtungen einer breiten, auf die sozial definierte Persönlichkeit ausgerichteten Erwachsenenbildung. Sie verbreiteten sich vor dem Zweiten Weltkrieg in der Deutschschweiz, ab den 1950er Jahren auch in der Westschweiz und im Tessin.
Die ökonomische Leitfigur
Die Nachkriegszeit brachte rasche und tiefgreifende Veränderungen, die auch die kulturelle Vision des aufgeklärten Bürgertums untergruben. Die 1950er Jahre standen im Zeichen des Wohlstandsparadigmas. Die Wirtschaft wuchs, immer mehr Güter waren zu verteilen. Die 1970er Jahre brachten den kulturellen Umbruch. Mit dem Fernsehen einerseits und dem Durchbruch der Popkultur andererseits verlor das klassisch gebildete Bürgertum rasch an Macht und Einfluss. Eine neue Kulturpolitik, 1976 vom Deutschen Städtetag formuliert und von der Schweiz sofort übernommen, versuchte zwar unter dem Titel «Kultur für alle» die Rolle der bürgerlichen Hochkultur zu festigen, indem sie die Zugangsschwellen senkte. Doch schaffte sie es nicht, die Erosion der Kultur- und Bildungsaffinität zu stoppen. Die wachsende individuelle Mobilität eröffnete den Bürgerinnen und Bürgern neue Horizonte. Sie beherzten das alte Diktum, dass Reisen bilde, und machten sich auf den Weg.
Die Wirtschaft ihrerseits setzte zum grossen Paradigmenwechsel an, zum Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Hunderttausende verloren ihren Job; man erinnere sich an die Schweizer Uhrenkrise der späten Siebzigerjahre. Sie kostete das Land 60’000 Arbeitsplätze. Neue Produktionsweisen entstanden, sie stellten neue Anforderungen an Arbeiter und Angestellte, die durch die Tore der kollabierenden Fabriken stolperten. Die verbliebene Industrie beschleunigte die Automatisierung. Die goldene Zeit der beruflichen Weiterbildung brach an, der Weiterbildungsmarkt explodierte, der Imperativ des lebenslangen beruflichen Lernens gewann Oberwasser. Das Konzept einer kulturellen Allgemeinbildung schien obsolet. Die Volkshochschulen und verwandte Einrichtungen wie die Klubschule (ab 1943) oder die ab den 1980er Jahren aufkommenden Seniorenuniversitäten standen vor der Sinnfrage. Wohin?
Natürlich war das Bedürfnis nach einer persönlichkeits- statt kompetenzorientierten Weiterbildung in der Bevölkerung nicht erloschen. Doch die Politik wollte das unmittelbare Problem lösen: die Jobfrage. Sie setzte ihrerseits zur Kurskorrektur an: von der kulturellen Allgemeinbildung bzw. von der Demokratiefähigkeit des Individuums hin zu seiner Arbeitsmarktfähigkeit. Die Bildungs- und Weiterbildungsgesetze, die in der Folge erlassen wurden, formulierten zwar weiterhin ein kulturell fundiertes Menschenbild, reduzierten die Fördertatbestände jedoch auf die unmittelbare Nützlichkeit von Weiterbildung, auf die Funktionalisierung des Individuums als Produktivkraft. Damit rückten die Anbieter einer kulturellen Allgemeinbildung in die zweite Reihe, verloren gar die staatliche Unterstützung wie in den Kantonen Zürich, Aargau, Luzern. Verstärkt wurde die Entwicklung durch die Digitalisierung, die seit der Jahrtausendwende die Gesellschaft überrollt. Wieder sind neue berufliche Kompetenzen gefragt, ist berufliche Weiterbildung im Sinne von Anpassung eine Priorität. Wieder glaubt die Politik, in die Offensive gehen zu müssen.
Zeit für eine Renaissance
Das ist der Lauf der Dinge, keine Katastrophe. Doch als einer, der nach der Maturität am Scheideweg zwischen Elektroingenieur und Germanist stand und sich nach zwei Tagen Schnuppern an der ETH für die Germanistik (mit mageren Berufsaussichten) entschied, bedaure ich den Bedeutungsverlust der kulturellen Weiterbildung enorm. Sie gehört, wie eine ehemalige sozialdemokratische Zürcher Bildungsministerin gelegentlich sagte, nun zur Freizeitbeschäftigung.
Dennoch liegt mir Nostalgie fern. Der Bedeutungsverlust der kulturellen Allgemeinbildung unter Erwachsenen ist auch das Ergebnis anderer Kräfte. Wir leben in einer Zeit der Individualisierung, der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz redet sogar von Singularisierung. Nicht das Allgemeine und das Verbindende zähle heute, sondern das Trennende: der Unterschied, die Originalität, die Einzigartigkeit. Dieser «Vormarsch des Singulären» (Reckwitz 2019, S. 12) betrifft Personen, Orte, Betriebe, Gesellschaften. Dem entspricht die starke Forcierung des kreativen Sektors, wie wir sie seit zwanzig Jahren beobachten. Die Aufgabe dieses Sektors, der von Kunst über Werbung bis zu den Medien alles umfasst, was sich mit Zeichenwelten befasst, ist es, Einzigartigkeit für Menschen und Produkte herzustellen. Und für Städte und Länder, weil die sich in einem globalen Wettbewerb der Attraktivität wähnen. Diese unaufhaltsame Singularisierung, ablesbar auch im permanenten Schönheitswettbewerb, den die Social Media aufführen, untergräbt auch das klassische Weiterbildungsmodell eines systematischen Ausbaus individueller Fähigkeiten über die Lebenszeit hin. Denn die Singularisierung führt zu einem beruflichen Nomadentum, einer Fokussierung auf Kommunikationskompetenzen und hermeneutische Prozesse, die schwer rationalisierbar sind, zur Auflösung der Sozialstrukturen und zu einem Leben mit Ungewissheit und unscharfen Identitäten. Das wiederum mündet in eine Destandardisierung. So sah es Jean-Michel Baudouin, Erziehungswissenschafter der Universität Genf, in seinem Input anlässlich der Sommertagung 2022 der Volkshochschulen im Juni in Lausanne. Mehr denn je ist Weiterbildung individuelle Massschneiderei.
Damit sind wir in den Tiefen der Kultur angelangt. Die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, geht über das goldene Kalb namens Bruttoinlandprodukt hinaus. Sie führt zur Suche nach geteilten Werten, nach erarbeiteter Erkenntnis und gemeinsamem Erleben – auch das weit jenseits von Mark Zuckerbergs Metaverse, wo ich körperlich doch allein bleibe. Erleben ist eine körperliche Frage, und gemeinsam – zum Beispiel – Begriffen nachzugehen, ihre Kraft und ihre Bedeutung aufzudecken, wirkt im Präsenzmodus unvergleichlich stärker als im digitalen Raum.
Kulturelle Bildung ist in dieser Perspektive Arbeit am bröckelnden Fundament unserer Gesellschaft. Und damit eine höchst politische Angelegenheit. Wenn die Aufgabe von Politik unter anderem darin besteht, Schäden von der Gesellschaft abzuwenden, dann hätte sie hier leichtes Spiel. Sie könnte durch eine Anpassung der gesetzlichen Grundlagen eine Renaissance der kulturellen Weiterbildung einleiten, indem letztere zu einem Fördertatbestand wird, wie er das über 90 Jahre war. Nicht als der vergangene Staatskundeunterricht oder die vier Abende über typische Schweizer Zu- und Umstände. Sondern als inhaltlich offene Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Zeit, kulturell, wissenschaftlich, politisch, wirtschaftlich. Zu einem Fördertatbestand muss diese Weiterbildung werden nicht nur, um die Angebote zu vergünstigen, sondern als Zeichen der Wertschätzung. Und als Voraussetzung dafür, dass die kulturelle Allgemeinbildung in den Strukturen der Weiterbildung und nicht bloss in den Präambeln mitgedacht ist. Oder wie das Analoge Manifest der Volkshochschulen fordert: «eine Bildungspolitik, die Mass nimmt am Menschen statt an der Technik». (Wiederkehr/Reichenau/Knüsel 2019, S. 47).
Der politische Schritt, der sich in einem Weiterbildungsgesetz 2.0 manifestieren würde – denkbar in zehn Jahren – genügt nicht. Auch die Anbieter selbst müssen sich auf die Hinterbeine stellen. Im Nachwort zum Jubiläumsband der Volkshochschule Zürich hatte ich den Weg in die Zukunft so beschrieben: «Die Volkshochschule ist nicht das privilegierte Medium der Digitalisierung. Gleichwohl muss sie moderne Instrumente nutzen, um nicht verstaubt zu wirken. Für eine dezentrale Einrichtung wie eine Volkshochschule liegt darin eine enorme Hürde. Lehrkräfte mit Minipensen, Unterricht in weit verstreuten Räumen, die man nicht selber gestalten kann, Ehrenamt anstelle von Entwicklungsplänen sind die grössten Hindernisse für das pädagogisch-technische Upgrade der Volkshochschulen.» Dennoch ist es unumgänglich. Auch hier gibt es keine Standardlösungen. Nicht nur die VHS, alle Anbieter von kultureller Allgemeinbildung – ich denke gerade an die vielen Erwachsenenbildungskommissionen, die in den Gemeinden aktiv sind und Kurse aufsetzen – müssen sich mit der Frage ihrer Zukunftsfähigkeit auseinandersetzen. Interessante Vermittlungsformen, kommunikativ begabte Kursleitende, so viel digitale Technik wie nötig und möglich, ohne dass sie zum Selbstzweck wird, das Schaffen von originellen Lern- und Interaktionssituationen – hier liegen die Potenziale. Eine systematische Empfehlung liegt mir fern. Es ist gerade die lokale Verankerung und die lokale Lösung, die kulturelle Bildung auszeichnet. Sie ist immer verwurzelt.
Es versteht sich von selbst, dass solche Angebote nicht die Mehrheit der Gesellschaft erreichen. Das war auch in den Anfängen der Erwachsenenbildung so. Doch um einen Sog zu erzeugen, reichen oft 10% oder 20%. Einen Sog, dass die kulturelle Dimension des Lebens der technischen vorausgeht. Dieser Sog könnte dazu beitragen, dass in den Klassenzimmern der näheren Zukunft sich nicht die Roboter die Hand drücken und gegenseitig Zertifikate ausstellen, sondern dass die künstliche Intelligenz ein Phänomen bleibt, das der menschlichen Intelligenz zudient und nicht umgekehrt.
- Bereits im Jahr 1900 hat sich der Geistliche Emmanuel Pattavel am Aufbau einer Schule für Volksbildung in La Chaux-de-Fonds beteiligt. Ob dafür jedoch tatsächlich der Begriff «Université populaire» verwendet wurde, entzieht sich der Kenntnis des Autors dieses Beitrags. Er konnte keine entsprechende Quelle finden.
Bibliographie
Furrer, Hans: Volkshochschule, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010417/2013-07-24/ (Abruf August 2022).
Neue Zürcher Zeitung NZZ. Ausgaben von 1919 und 2022.
Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten, Frankfurt 2019, S. 12.
Schneider, Daniel: Die Volkshochschulen in Deutschland, in: Planet Wissen. https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/lernen/volkshochschule/index.html
(Abruf August 2022).
Seitter, Wolfgang: Geschichte der Erwachsenenbildung. Eine Einführung, hg. vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung DIE (Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung), Bielefeld 2007.
Wiederkehr, Ruth: «Ein lernbegierig Volk». Geschichte der Volkshochschule Zürich 1920 bis 2020, Zürich 2020.
Wiederkehr, Ruth/Reichenau, Christoph/Knüsel, Pius: Bildung zur Vernunft. 75 Jahre Verband der Schweizerischen Volkshochschulen VSV, Zürich 2019