23.11.2021
N°2 2021

Kompetenzverschiebung zwischen Funktionalität und Gefühlen

Gibt es eine Kompetenzverschiebung bei den Kursleitenden hin zu einer grösseren Berücksichtigung der Gefühle von Kursteilnehmenden? Das Projekt «sinnbild» hat zu dieser Frage in einer qualitativen Untersuchung Kursleitende interviewt und in einer deutschlandweiten quantitativen Online-Untersuchung befragt. Rekonstruiert wurden sieben didaktische Praktiken für die Beziehungsarbeit und für die inhaltliche Vermittlungsarbeit. Im Rahmen dieser Praktiken werden die Gefühle der Teilnehmenden in unterschiedlicher Weise von den Kursleitenden aufgegriffen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Gefühle und Empfindungen im Unterschied zur wissenschaftlichen Reflexion für die Erwachsenenbildungspraxis eine grosse Rolle spielen.

Weil die Erwachsenenbildung in den 1960er Jahren noch kein etablierter Bestandteil des Bildungssystems in der Bundesrepublik war, hielt Hans Tietgens mit der Publikation «Lernen mit Erwachsenen» (1967) ein Plädoyer für die Fachlichkeit. Er bemühte sich, systematische Erträge und vor allem die gesellschaftliche Funktionalität der Erwachsenenbildung aufzuzeigen. Bildung wurde mit funktionaler Handlungsfähigkeit gleichgesetzt. Zur gleichen Zeit legte Tobias Brocher (1967) sein Buch «Gruppendynamik und Erwachsenenbildung» vor, das mit Abstand zum Bestseller der erwachsenenpädagogischen Literatur wurde (Doerry 1981: 17). Er brachte erstmals die sozial-emotionale Seite der Lernenden und des Lehr-Lern-Verhältnisses zur Sprache. Reflektiert wurde der Zusammenhang von Sachbezügen und sozialen Bezügen. In den Mittelpunkt gerückt wurden frühere Lernerfahrungen der Teilnehmenden (TN) und Kursleitenden (KL) sowie affektive gruppendynamische Prozesse. Sie führen zu latenten Spannungen und wirken im Lehr-Lern-Verhältnis begrenzend. Mit der Fokussierung der sozial-emotionalen Seite des Lehr-Lern-Verhältnisses fand eine erste Verschiebung von der Fachlichkeit hin zur sozial-emotionalen Seite des Lehrens statt.

Heute lässt sich schwer einschätzen, welche Folgen diese Diskurse damals für die konkreten Kompetenzen der KL hatten. Untersuchungen zum Verhalten der KL zeigen, dass fachlich erfahrene KL mit langjähriger Weiterbildungstätigkeit «weniger Anteilnahme an den Problemen der Lernenden und weniger Anerkennung für deren Leistungen» (Bräutigam 1984: 44) hatten. Fachlichkeit und Gefühle standen lange Zeit in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. In diesem Beitrag wird die These vertreten und empirisch untersucht, dass zwischenzeitlich eine Kompetenzverschiebung von der Fachlichkeit und Funktionalität hin zu den Gefühlen stattgefunden hat. Dabei existiert eine Sensibilität für die Gefühle und Empfindungen der TN, ohne die Fachlichkeit zurückzudrängen. Gefühle werden vielmehr als eine eigenständige Grösse verstanden, die erst in Kombination mit Fachlichkeit Lernerfolg verspricht. Deutlich wird dies beispielsweise in der aktuellen Forderung, dass digitales Lernen mehr Beziehungen, Gefühl und Atmosphäre brauche. Oder auch in den Bildungsangeboten zur Nachhaltigkeit: Sie sollten im Ergebnis nicht nur zu Wissen, sondern zu einer verantwortlichen Handlungsfähigkeit führen. Der Wille zur Handlungsfähigkeit wiederum ist auf Gefühle angewiesen.

Im Projekt «sinnbild» wurden Kursleitende (KL) zu ihrem Umgang mit den Gefühlen und Empfindungen der TN befragt. Für diesen Zweck wurden in einem ersten Schritt Interviews erhoben und qualitativ ausgewertet. In einem zweiten Schritt wurde eine deutschlandweite schriftliche Befragung durchgeführt und quantitativ ausgewertet. Die Ergebnisse der quantitativen Untersuchung werden im Folgenden dargestellt. Dazu werden in einem ersten Schritt der Stand der Forschung und der theoretische Zugang skizziert. Es folgt das Untersuchungsdesign und die Darstellung der Ergebnisse.

Zum Stand der Forschung und theoretischer Zugang

Der Stand der Forschung zu Bildung und Emotionen in der Erwachsenenbildung ist überschaubar. Wichtige kategoriale Arbeiten haben Arnold (2005), Gieseke (2007) und Holzapfel (2004) vorgelegt (vgl. Ludwig 2020: 329 f.). Die Arbeiten sind emotionspsychologisch geprägt und stellen die wechselseitige Verbindung von Emotion und Kognition heraus. Sie kritisieren Einseitigkeiten, insbesondere die Auffassung, dass Gefühle irrational seien (Gieseke 2007: 18) und machen darauf aufmerksam, dass empirische Untersuchungen in der Erwachsenenbildung fehlen. Einen umfassenden Sammelband zu Bildung und Emotionen haben Huber/Krause (2018) vorgelegt. Der Sammelband macht deutlich, dass sich die Begriffe Emotion und Gefühl nicht trennen lassen und unterschiedliche theoretische Zugänge darstellen. Emotionen werden als individuelle Dispositionen und Determinanten des Lernprozesses betrachtet (Hascher/Brandenberger 2018: 289). Demgegenüber verweist der Begriff «Gefühl» auf sinnliche Wahrnehmungen und bezieht sich auf den Diskurs zu Ästhetik und Bildung.

Im Projekt sinnbild werden die Kategorien «Gefühl und Empfindung» verwendet, um die Polarisierung von Emotion und Kognition zu umgehen und Anschluss an den Bildungsbegriff zu finden, der hier bei Schiller ansetzt. Er entwirft Bildung als ein Zugleich von Sinnlichkeit und Vernunft. Jede menschliche Handlung basiert auf der Sinnlichkeit. Die Rationalität der Begriffe allein reicht für die Handlung nicht aus, weil die Ausführung das lebendige Gefühl braucht (Schiller nach Friedauer 2018: 60). Der gebildete Mensch zeichnet sich deshalb durch eine gleichwertige Ausbildung von Sinnlichkeit und Vernunft aus. Dieses Zusammenspiel wird bei Schiller durch das Ästhetische, das Empfindungsvermögen geregelt (ebd.: 64). Für das Entstehen einer Empfindung sind sowohl sinnliche Eindrücke – das Gefühl – als auch Verstandestätigkeit erforderlich. Eine Empfindung entsteht aus der Bewusstwerdung einer sinnlichen Erregung, ist also ein reflexiver Akt. Friedauer macht dies am Beispiel eines Eiswürfels deutlich: Ein Eiswürfel hat die Eigenschaft kalt, wenn ich ihn fühle. Seine Wirkung auf mich als Subjekt dagegen empfinde ich als kalt oder kälter als einen Schneeball. Hier wird nicht mehr der Eiswürfel als Objekt, sondern meine eigene Wahrnehmung der Kälte zum Thema (ebd.: 66). Oder: Eine sinnlich wahrgenommene Kursatmosphäre wird mit einer anderen Kursatmosphäre verglichen. Dieser Vergleich ist keine sinnliche Wahrnehmung mehr, sondern eine ästhetische Wahrnehmung auf der Basis meines Empfindungsvermögens. Der Mensch benötigt den Verstand und das Gefühl, um sich in der Empfindung seiner selbst bewusst zu werden. Das Empfindungsvermögen wiederum kann biografisch lernend erweitert werden (Lehmann 2016). Die Empfindung ist auf Selbsterkenntnis ausgerichtet, ihr hängt etwas Kognitives an. Sie ist ein Reflexionsmodus. Demgegenüber bleibt das Gefühl von der Wahrnehmungsreflexion unberührt (Friedauer: 67). Die Bildungsaufgabe besteht für Schiller darin, die Gefühle nicht sich selbst zu überlassen, sondern sie über den Akt des Denkens in den ästhetischen Modus einer Empfindung zu überführen. Bildungs- und Lernprozesse sind so gesehen auf Gefühle angewiesen, setzen Gefühle voraus. Mit diesem theoretischen Verständnis wurden die KL interviewt bzw. befragt, um herauszufinden, in welcher Weise sie Gefühle und Empfindungen der TN zulassen bzw. unterstützen (zum Verhältnis von ästhetischer Wahrnehmung, Empfindungsvermögen, Bildung und Lernen vgl. Ludwig 2021).

Untersuchungsdesign

Im Mittelpunkt des Projekts sinnbild stehen KL mit ihrem didaktischen Denken über die Rolle der Gefühle und Empfindungen im Lehr-Lern-Verhältnis. Untersucht wird, in welcher Weise KL die Gefühle und Empfindungen der TN in ihr didaktisches Denken und Planen einbeziehen, welche Ziele sie verfolgen, wie sie ihr Handeln begründen und welche Erwartungen bzw. welche Wirkungsannahmen sie damit verbinden. Der Untersuchungsgegenstand ist nicht der in Kursen beobachtbare Umgang der KL mit Gefühlen im Kurs. Wir erheben ausschliesslich die Sichtweisen der KL auf ihre Interaktionen mit den TN und auf die damit verbundene Rolle der Gefühle und Empfindungen. Diese Interaktionen begreifen wir als Praktiken, d.h. als Handlungsverlaufsmuster.

Das Projekt sinnbild umfasst eine qualitative und eine quantitative Untersuchung.[1] In der qualitativen Untersuchung ging es erstens um die Rekonstruktion der didaktischen Praktiken, die KL im Kursverlauf anwenden. Die Rolle der Gefühle und Empfindungen im didaktischen Denken der KL sollte differenziert entlang einzelner didaktischer Praktiken untersucht werden, und nicht pauschal bezogen auf das didaktische Handeln insgesamt. Zweitens zielte die qualitative Untersuchung auf die Umgangsweisen der KL mit Gefühlen und Empfindungen. Dazu wurden in einem ersten Schritt 56 Telefoninterviews erhoben und überwiegend mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet. Im Ergebnis wurden sieben Praktiken rekonstruiert, entlang deren sich die KL didaktisch bewegen. Diese sieben Praktiken lassen sich – nicht überschneidungsfrei – in zwei Cluster ordnen: Beziehungsarbeit und inhaltliche Vermittlungsarbeit. Die Beziehungsarbeit umfasst drei Praktiken. Die inhaltliche Arbeit am Lerngegenstand umfasst vier Praktiken (vgl. Ludwig 2020: 335 f.):

1. Cluster: Beziehungsarbeit

  • Praktik 1.1: Beziehungsaufbau
  • Praktik 1.2: Gegenständliche Raumatmosphäre schaffen
  • Praktik 1.3: Hinführen auf den Gegenstand/partizipative Kursplanung

2. Cluster: Inhaltliche Vermittlungsarbeit

  • Praktik 2.1: Einführung des Lerngegenstandes
  • Praktik 2.2: Neues Wissen mit altem vergleichen und reflektieren
  • Praktik 2.3: Möglichkeiten für Positionierungen schaffen
  • Praktik 2.4: Praxistransfer

Die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung waren eine zentrale Grundlage für die Erstellung des Fragebogens für die schriftliche Online-Befragung. Die von den KL in den Interviews thematisierten Praktiken mit ihren Zielen, Methoden und Begründungen wurden als Grundlage für die Formulierung der Fragen und der Antwortmöglichkeiten herangezogen. Bei der Beantwortung der Fragen durften die KL immer nur eine Antwort wählen. Da die Antwortmöglichkeiten Überschneidungen aufwiesen, mussten die KL Prioritäten zwischen Funktionalität und Gefühl setzen. Auf diese Weise sollte ein «entweder – oder» vermieden werden.

Der Fragebogen wurde deutschlandweit an Einrichtungen der allgemeinen und betrieblichen Bildung versandt mit der Bitte, ihn an die KL weiterzuleiten. Bei einem Rücklauf von 387 Fragebögen waren 322 für die Auswertung verwertbar. Im Ergebnis gibt es eine breite Streuung der Kurse hinsichtlich struktureller Kursmerkmale: zeitliche Kursstruktur, Kursgrösse, Fachbereiche, Einrichtungstypen, allg. vs. betriebliche Weiterbildung, Arbeitszeit vs. Freizeit, Teilnehmendenfinanzierung, Alter, Zertifizierung, Curriculum vs. freier Planung, Vertrautheitsgrad der Akteure. Auch die KL-Merkmale sind breit gestreut hinsichtlich: Gender, Alter, Erfahrenheit in der Erwachsenenbildung, Beschäftigungstyp in der Erwachsenenbildung, Hauptberuf, Bildungsabschluss, pädagogische Ausbildung, Selbstverständnis und Motive, in der Erwachsenenbildung tätig zu sein.

Darstellung der Ergebnisse

Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den drei Praktiken im 1. Cluster «Beziehungsarbeit» und zu den vier Praktiken im 2. Cluster «Inhaltliche Vermittlungsarbeit» dargestellt.

1. Cluster: Beziehungsarbeit

Praktik 1.1 Beziehungsaufbau

Ziele des Beziehungsaufbaus:

Nur ca. 11% der KL fühlen sich für die Beziehungen im Kurs nicht zuständig und sehen ihre Aufgabe ausschliesslich in der inhaltlichen Vermittlungsarbeit.

Die Herstellung guter Beziehungen durch die Zuwendung zu den TN ist für die grosse Mehrheit der KL (89%) eine wichtige Aufgabe zu Beginn des Kurses und während des Kursverlaufs. Bezogen auf die Einrichtungen zeigt sich, dass KL aus staatlichen Einrichtungen weniger Wert auf Beziehungsarbeit legen als Dozenten aus kirchlichen Einrichtungen, Stiftungen oder der Volkshochschule.

Die 89% der KL, die im Beziehungsaufbau eine wichtige Aufgabe sehen, teilen sich wie folgt auf: 77% der KL wollen während der Kennenlernphase im Kurs herausfinden, was die TN persönlich an der Veranstaltung interessiert. Hier geht es um das inhaltliche Interesse. 12% der KL setzen ihre Priorität bei den Empfindungen der TN. Sie wollen die Erwartungen und Ängste der TN kennenlernen. Durch vertrauensvolle Beziehungen sollen sich die TN mit ihren Reflexionen im Kurs sicher fühlen können.

Methoden für den Beziehungsaufbau:

Bei den Methoden für den Beziehungsaufbau zeigt sich ein polares Verhältnis zwischen KL, die kurze Vorstellungen bevorzugen, und KL, die mit umfassenden Kennenlernrunden arbeiten. Jede Variante wird von jeweils ca. 43% der KL genutzt. Methoden der Wahl für umfassende Kennenlernrunden sind beispielsweise Spiele und Fragerunden während der Kennenlernphase und in Feedback-Runden während dem Kursverlauf.

Die Polarisierung zwischen kurz und umfassend hängt mit dem zeitlichen Umfang des Kurses zusammen. In Kursen mit einer Länge bis zu einem Tag werden überwiegend kurze Vorstellungen gewählt – vermutlich, um ausreichend Zeit für die inhaltliche Arbeit zu haben. Bei Kursen mit grösserem zeitlichem Umfang (ab zwei Tagen) sind umfassende Kennenlernrunden das Mittel der Wahl.

Die Stimmungen im Seminarverlauf sind für 78% der KL eine wichtige Einflussgrösse für die Beziehungsqualität. Dabei existieren Unterschiede in der Vorgehensweise und hinsichtlich der Bedeutung, die der Reflexion der Stimmungsqualität zukommt. Während des Seminars sprechen 51% der KL schlechte Stimmungen direkt an und unterbrechen dafür die inhaltliche Arbeit. 27% der KL reservieren die Thematisierung der Stimmungen für Feedback-Runden. Nur 18% der KL sind hinsichtlich der Thematisierung von Stimmungen sehr zurückhaltend und sprechen die Stimmung nur dann an, wenn die Zusammenarbeit gefährdet ist. Nur ca. 3% der KL betrachten solche Gespräche nicht als Bestandteil des Seminarverlaufs und verlegen diese Reflexionen auf ausserhalb der Kurszeiten.

Praktik 1.2: Eine gegenständliche Atmosphäre schaffen

Eine Mehrheit der KL (70%) gestaltet den Kursraum, um in inhaltlicher Hinsicht und mit Blick auf das Empfindungsvermögen zu unterstützen.

Die Raumgestaltung der 70%-Gruppe verfolgt dabei unterschiedliche Prioritäten:

Demnach begründen nur 6% der KL die Raumgestaltung rein funktional mit einem reibungslosen Kursablauf. 25% priorisieren in ihrer Begründung die Atmosphäre und das Willkommensgefühl. 39% wollen mit der Raumgestaltung den Lernprozess sowohl in seinen inhaltlichen Aspekten als auch hinsichtlich des Empfindungsgefühls unterstützen.

30% der KL sehen für eine Raumgestaltung entweder keine Möglichkeit oder keine Notwendigkeit.

Praktik 1.3: Gemeinsame Kursplanung/Hinführung auf den Gegenstand

Im Unterschied zur Einführung in den Gegenstand (vgl. Praktik 2.1) geht es bei der Hinführung um Fragen der biografischen Bedeutsamkeit des Themas für die TN und darum, gemeinsam mit den TN entlang ihrer unterschiedlichen Lerninteressen die Inhalte des Kurses zu planen. Die unterschiedlichen Lehr- und Lerninteressen münden in einer gemeinsamen Kursplanung, welche im Erfolgsfall die Erwartungen der TN an die Themen im Kurs aufgreift.

Bei 50% der KL stehen bei der gemeinsamen Kursplanung zu Kursbeginn die Gefühle der TN im Vordergrund. Sie wollen Lust auf das Thema machen und Ängste sowie Widerstände der TN zur Sprache bringen.

22% der KL wollen sowohl die bisherigen positiven und negativen Lernerfahrungen der TN als auch das Vorwissen der TN zur Sprache bringen.

Zusammenfassend lässt sich für diese Praktik festhalten, dass 72% der KL bei der gemeinsamen Kursplanung die Gefühle der TN ansprechen wollen.

27% der KL haben vor allem eine inhaltlich-funktionale Perspektive: Sie wollen das Vorwissen aktualisieren und die TN mit dem Thema vertraut machen.

11% der KL sehen sich als sehr flexible Planer, die von den Bedürfnissen der TN geleitet sind.

Eine deutliche Mehrheit der KL (81%) definiert sich als strukturiert Planende, die aufgrund von TN-Wünschen auch offen für Veränderungen sind.

Nur 2% der KL verstehen sich als klar durchgeplant. Abweichende thematische Interessen werden in diese Planung nicht integriert. In diesen Fällen wird auf andere Stellen (Kurse, Materialien) verwiesen.

Fasst man die drei Praktiken im Cluster «Beziehungsarbeit» zusammen, wird deutlich, dass die KL den Gefühlen und Empfindungen der TN in hohem Masse Raum geben. Die Herstellung einer guten Beziehungsqualität, die Gestaltung der Raumatmosphäre und die Reflexion der Stimmungen sind für die grosse Mehrheit der KL eine wichtige Aufgabe. Bei der gemeinsamen Kursplanung ist die überwiegende Mehrheit der KL offen für die Wünsche, Interessen und Ängste der TN.

2. Cluster: Inhaltliche Vermittlungsarbeit

Praktik 2.1.: Einführung in das Thema/in den Gegenstand

Lerngegenstände besitzen immer eine zweckorientierte Seite mit Erklärungs- und Handlungswissen einerseits und einer Gefühlsseite andererseits. So gibt es beispielsweise Lerngegenstände, mit denen Lernende schon gute oder schlechte Lernerfahrungen gemacht haben. Das kann das Verständnis des aktuellen Lerngegenstandes befördern oder behindern.

Solche Gefühle und Empfindungen spielen für 84% der KL eine wichtige Rolle. Sie gelten als Voraussetzung, damit die TN ein angemessenes Verständnis vom Gegenstand sowie Handlungsfähigkeit erlangen. Objekte wie z.B. Kunstkarten oder Metaphern sollen aus Sicht der KL helfen, sowohl positive Gefühle auszulösen oder zu erinnern als auch eine fachliche Brücke vom bisherigen Wissen zum neuen Wissen zu bauen. 58% möchten vor allem Stimmungen, Aufmerksamkeit und Empfindungen anregen. 42% der KL erwarten von den Objekten vor allem mehr fachliche Anschaulichkeit. 

Bei der Einführung in den Lerngegenstand knüpfen 42% der KL an den biografischen Erfahrungen der TN an, um ihnen Sinnbezüge und Empfindungen zu ermöglichen. 32% der KL knüpfen an das Vorwissen der TN an, um neues Wissen anschaulicher darstellen zu können. Nur 13% der KL prüfen das Vorwissen der KL, um zu klären, an welcher Stelle die Vermittlung beginnen kann.

Praktik 2.2: Neues Wissen mit altem vergleichen und reflektieren

Neues Wissen muss aus Sicht der KL auf seine Passung zum bestehenden Wissen hin verglichen werden. Erst mit einer erfolgreichen Passung lässt sich neues Wissen anschliessen und vorhandenes erweitern bzw. ausdifferenzieren.

84% der KL ermuntern die TN, ihre Gefühle gegenüber dem neuen Lerngegenstand im Kurs auszudrücken. Das Aufzeigen von Perspektivenvielfalt im Kurs spielt dabei eine grosse Rolle. Wissen kann in ganz unterschiedlichen Facetten verstanden werden. 75% der KL arbeiten mit Perspektivwechsel. Davon begründen 56% den Perspektivwechsel eher fachlich-funktional mit einem besseren Verständnis, 44% eher auf der Gefühlsebene in Form von empathischem Nachvollzug fremder Perspektiven und der Wahl zwischen eigenen Positionierungsmöglichkeiten.

Von den 25% der KL, die ohne Perspektivwechsel arbeiten, versuchen 15% mit Überzeugungsarbeit negative Gefühle der TN zu verändern. Eine Perspektive, die Konflikte erzeugen kann.

Praktik 2.3: Möglichkeiten für Positionierungen schaffen

TN positionieren sich je nach ihrer Empfindung zustimmend oder ablehnend/widerständig zum Lerngegenstand. Das kann mehr oder weniger bewusst erfolgen.

Die Rolle der Positionierungen betrachten KL wie folgt:

  • a) Für 58% der KL spielen diese Positionierungen eine grosse Rolle. Es ist ihnen wichtig, dass sich die TN im Kurs offen positionieren können.
  • b) 27% der KL sind gegenüber Positionierungen vorsichtig und lassen sie nur zu, wenn die Inhalte im Vordergrund bleiben.
  • c) 15% der KL geben keine Möglichkeiten für Positionierungen.

Positionierungen führen im Kurs oft zu kontroversen Diskussionen. 70% der KL lassen Positionierungen nicht nur zu. Sie sind zugleich gegenüber kontroversen Positionierungen vorsichtig und befürchten, den Diskussionsverlauf nicht mehr steuern zu können. Nur 19% der KL sind an dieser Stelle risikobereiter und lassen solche Diskussionen auch dann zu, wenn sie von ihrer ursprünglichen Planung abweichen müssen. 4% der KL vermeiden kontroverse Positionierungen im Kurs.

Eine deutliche Mehrheit von 85% der KL greift Stimmungen als Gefühlsäusserungen der TN im Kurs explizit auf.

Praktik 2.4: Praxistransfer

Für 92% der KL sind Übungen im Seminar unverzichtbar, um Praxistransfer zu ermöglichen. Nur 8% der KL arbeiten ohne Übungen.

Von den 92% der KL sehen 54% in den Übungen eine notwendige Voraussetzung, damit die TN ihre eigene Handlungsfähigkeit erleben und empfinden können. 21% der KL wollen die TN auf typisches Gefühlserleben in der zukünftigen Praxis vorbereiten. Für 17% der KL ist es wichtig, in der Übung zu sehen, wer von den TN das fachliche Wissen beherrscht.

Rollenspiele sind für 73% der KL eine passende Methode, um Wissen in praktisches Handeln zu überführen. Nur 27% arbeiten ohne Rollenspiele.

Die Mehrheit der KL begründen die Rollenspiele mit der Möglichkeit, das Fachliche mit den Empfindungen zu verbinden. Nur 14% priorisieren eine ausschliesslich fachliche Begründung.

Ausblick 

Das Projekt sinnbild stellt einen ersten Versuch dar, den didaktischen Umgang der KL mit den Gefühlen und Empfindungen der TN empirisch zu erheben. Dabei wird deutlich, dass das didaktische Handeln bei der überwiegenden Mehrheit der KL auf die Gefühlswelt und das Empfindungsvermögen der TN abhebt. Das gilt für alle sieben Praktiken und beide Cluster. Die These, dass im 2. Cluster «Inhaltliche Vermittlungsarbeit» Gefühle und Empfindungen eine geringere Rolle spielen, wäre naheliegend, lässt sich aber nicht bestätigen. Eine Verschiebung von der Fachlichkeit/Funktionalität hin zu Gefühlen und Empfindungen der TN hat in der Praxis seit den 1960er Jahren stattgefunden. Dabei steht die starke Fokussierung in der Praxis im Kontrast zu der geringen wissenschaftlichen Thematisierung der Gefühle.

In praktischer Hinsicht helfen diese ersten Ergebnisse, die Gefühle und Empfindungen der TN zum Gegenstand pädagogischer Weiterbildung von KL zu machen. Wenn Bildung das Zugleich von Sinnlichkeit und Vernunft ist und sich im Empfindungsvermögen zeigt, dann sollten KL entlang der didaktischen Praktiken die Kompetenz entwickeln, die Erweiterung des Empfindungsvermögens der TN zu unterstützen.

  1. Das Projekt sinnbild wurde mit eigenen Mitteln der Professur Erwachsenenbildung an der Universität Potsdam durchgeführt. Besonderer Dank für ihr ausserordentliches Engagement gilt den studentischen Mitarbeitenden Christien Radecki und Jasper Withloh.

Literatur

Arnold, Rolf (2005): Die emotionale Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge zu einer emotionspädagogischen Erwachsenenbildung. Baltmannsweiler

Bräutigam, Gregor (1984): Kursleiterverhalten und seine Auswirkungen auf das Lernen. (bmp: berichte-materialien-planungshilfen). Frankfurt a.M.

Brocher, Tobias (1967): Gruppendynamik und Erwachsenenbildung. Zum Problem der Entwicklung von Konformismus oder Autonomie in Arbeitsgruppen. Braunschweig.

Doerry, Gerd (1981): Sozialemotionale Bedingungsfaktoren des Lernverhaltens von Erwachsenen. In: Doerry, Gerd (Hrsg.): Bewegliche Arbeitsformen in der Erwachsenenbildung. S. 9–62. Braunschweig.

Friedauer, Denise (2018): Gefühl und Empfindung. Über ihre Bedeutung für ästhetische Bildung im Kontext von Schillers Theorie. In: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hrsg.): Bildung und Emotion. S. 59–74. Wiesbaden.

Gieseke, Wiltrud (2007): Lebenslanges Lernen und Emotionen. Wirkungen von Emotionen auf Bildungsprozesse aus beziehungstheoretischer Perspektive. Bielefeld.

Hascher, Tina; Brandenberger, Claudia C. (2018): Emotionen und Lernen im Unterricht. In: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hrsg.): Bildung und Emotion. S. 289–312. Wiesbaden.

Holzapfel, G. (2002): Leib, Einbildungskraft, Bildung. Nordwestpassagen zwischen Leib, Emotion und Kognition. Bad Heilbrunn.

Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hrsg.) (2018): Bildung und Emotion. Wiesbaden.

Lehmann, Harry (2016): Gehaltsästhetik. Paderborn.

Ludwig, Joachim (2020): Geht das unter die Haut? Zur Rolle der Gefühle in der Erwachsenenbildung. In: Dörner, Olaf; Iller, Carola; Schüssler, Ingeborg; von Felden, Heide; Lerch, Sebastian (Hrsg.): Erwachsenenbildung und Lernen in Zeiten von Globalisierung, Transformation und Entgrenzung. S. 327–340. Opladen, Berlin, Toronto.

Ludwig, Joachim (2021): Wie lassen sich ästhetische Bildungsprozesse in Tanz-, Theater- und Performanceprojekten theoretisch fassen? Eine Heuristik. In: Hartmann, Anne; Kleinschmidt, Katarina; Schüler, Eliana (Hrsg.): Subjekte Kultureller Bildung, S. 37–54. München.

Tietgens, Hans (Hrsg.) (1967): Lernen mit Erwachsenen. Von den Arbeitsweisen der Erwachsenenbildung. Braunschweig.

Joachim Ludwig, Professor im Ruhestand, Universität Potsdam. Kontakt: ludwig@uni-potsdam.de