24.05.2022
N°1 2022

Kollaboratives Lernen und kollaboratives Arbeiten – zwei Seiten derselben Medaille

In der Arbeitswelt nimmt kollaboratives Arbeiten zu. Unternehmen erkennen darin die Möglichkeit, flexibler und innovativer zu sein, indem sie ihren Teams mehr Autonomie einräumen. Verschiedene Bildungsakteure sehen einen starken Zusammenhang zwischen kollaborativem Arbeiten und kollaborativem Lernen. Sie verstehen kollaboratives Lernen nicht allein als besonders wertvoll, weil es eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand erlaubt. Kollaboratives Lernen entspreche auch einem Bedürfnis einer Generation, die sich stärker einbringen und sich als selbstwirksam erfahren möchte.

Die Welt, in der wir heute leben, wird gern und oft mit dem Akronym VUKA beschrieben. Es steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Um in der VUKA-Welt Probleme zu lösen oder ein Unternehmen zu führen, scheinen die Rezepte der Vergangenheit nicht mehr auszureichen; traditionelle, hierarchisch gebaute Unternehmensorganisationen seien zu langsam, um rasch auf plötzliche und unerwartete Veränderungen reagieren zu können, und es fehle ihnen an kreativem Potenzial. Agilität lautet das Schlagwort der Stunde. Dazu bedürfe es Teams, die weitgehend autonom planen und auch handeln sollen. Aus dem Zusammentreffen verschiedener Sichtweisen und Kenntnisse sowie aus der Auseinandersetzung mit diesen, so die Annahme, entstünden die kreativen Lösungen, die man benötige. Diese Form des Zusammenwirkens will mehr sein als Kooperation, in der man zwar zusammenarbeitet, aber in der Arbeitsteilung doch jeder für sich werkelt. Eigentliche Innovation entstehe, so das Credo der agilen Arbeitswelt, durch kollaboratives Arbeiten.  

Das hat natürlich viel mit Lernen zu tun: lernen nicht nur miteinander, sondern auch voneinander. Ist also kollaboratives Lernen sozusagen die Konsequenz des kollaborativen Arbeitens? Oder gar die Voraussetzung dafür, dass kollaboratives Arbeiten gelingt? Christian Müller vom Bildungsanbieter Intrinsic ist davon überzeugt. Mit Blick auf die Arbeitswelt spricht er von einem notwendigen Paradigmenwechsel in der Bildung auf allen Stufen, also auch in der Weiterbildung. «Gemeinsam auf eine Lernreise zu gehen», so lautet seine programmatische Forderung, damit man die Herausforderungen der Zukunft bewältigen könne. 

Als Aus- und Weiterbildungsanbieter richtet sich Intrinsic zunächst einmal an Lehrpersonen für die Primarschule. Aber die Aufträge kommen auch aus der Wirtschaft. So hat ein grosser Arbeitgeber Intrinsic beauftragt, ein 10. Schuljahr zu realisieren. Es soll jungen Berufseinsteigerinnen und -einsteigern nicht nur wenig bekannte und wenig beliebte Berufe schmackhaft machen, sondern auch die Frustration der Schulzeit in «eine Positivspirale des Lernens und des Entdeckens» umpolen. Wie? Durch kollaboratives Lernen. Und auch die Lehrlingsausbildung eines anderen bedeutenden Arbeitgebers soll Intrinsic zu einer «grossen Lernreise» umgestalten.

Mit- und voneinander zu lernen, ist indes beileibe kein neuer Gedanke. Dennoch scheinen heute verschiedene Faktoren zusammenzukommen, die dem Prinzip eher zur Breitenwirkung verhelfen könnten. Nebst dem Wandel von Arbeitsorganisationen ist es der Zugang zu Wissen, der sich durch die digitale Revolution weit geöffnet hat. «Wissen ist heute überall und jederzeit abrufbar», sagt Christian Müller – sofern eine stabile Internetverbindung vorhanden ist, natürlich. Die allwissende Lehrperson hat demnach ausgedient. In den Vordergrund rücken andere Aufgaben als die reine Wissensvermittlung: die Vermittlung von Lerntechniken, das Herstellen von Zusammenhängen oder die Förderung individueller Stärken der Lernenden zum Beispiel. 

Nebst technologischen Möglichkeiten und arbeitsweltlichen Notwendigkeiten sieht Christian Müller zudem einen dritten Faktor, der Konzepte wie kollaboratives Lernen gerade jetzt begünstige: Der Mensch, so der Mitbegründer von Intrinsic, möchte Wachstum und Fortschritt sozusagen als anthropologische Konstante. Anders als frühere Generationen könnten heutige und künftige Generationen dieses Bedürfnis allerdings nicht mehr in jedem Fall und ausschliesslich materiell befriedigen. Lebensqualität sei vielmehr durch inneres Wachstum, durch Selbstverwirklichung zu erreichen, folgert Christian Müller. Und dies sei eher möglich in einem kollaborativen Setting, in dem sich der oder die einzelne wesentlich stärker einbringen könne als in einer klassischen Aus- oder Weiterbildung, in der vor allem der Dozent, die Dozentin das Sagen habe. Im Grunde ist demnach kollektives Lernen nicht allein eine Konsequenz des Wandels in der Arbeitswelt, sondern entspricht auch einem Bedürfnis einer Generation im Wertewandel.

Christian Müller ist sich jedoch auch bewusst, dass sein Ideal noch längst nicht Mainstream ist. «Das meiste findet im Alten statt», bilanziert er. Überdies gibt es auch andere Tendenzen. So weist Christoph Negri, Leiter des Instituts für Angewandte Psychologie (IAP) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), darauf hin, dass die Modularisierung von Angeboten weiterhin zunehme. Überdies würden diese Module immer kleinteiliger. Die Nutzenorientierung stehe im Vordergrund. Der Austausch in Gruppen entfalle immer öfter, weil Gruppenkonstellationen häufiger wechselten und die Zeit knapper werde. Umgekehrt ist auch am IAP Blended Learning inzwischen ein etabliertes Lernkonzept, wodurch das Kollaborative wiederum Raum erhält: Die eigentliche Stoffaneignung findet ausserhalb des Kursraums statt. Dafür steht in der Gruppe mehr Zeit für die Auseinandersetzung mit dem Thema zur Verfügung.

Negri ist sich des Werts des gemeinsamen Lernens auch deshalb bewusst, weil es einem immer wieder geäusserten Bedürfnis der Lernenden selbst entspricht. Wer das IAP nicht kenne, aber eine Weiterbildung erwäge, frage zunächst einmal, wer die anderen Studierenden seien, erzählt Negri. Und das Feedback nach abgeschlossener Weiterbildung falle gerade in Bezug auf das Lernen von und mit den Peers positiv aus. Dabei sei die Zusammensetzung der Gruppe wichtig, sagt Negri, denn man wolle sich auf Augenhöhe begegnen. 

Kollaboratives Lernen im Grossgruppenformat

Negri ist es deshalb ein Anliegen, dass die Freiräume für den sozialen Austausch nicht einer vermeintlichen Effizienz geopfert werden. Darüber hinaus schafft das IAP Angebote, die explizit das kollaborative Lernen ermöglichen sollen. Im Frühling dieses Jahres startet «Connect», ein Grossgruppenformat, welches nach dem Prinzip des Barcamps funktioniert. Es richtet sich an alle Weiterbildungsteilnehmenden des IAP und soll die Vernetzung über die einzelnen Fachbereiche hinaus verstärken. Lernende aus den Bereichen psychologische Beratung und Psychotherapie, Leadership, Bildungsmanagement und weiteren Disziplinen sollen sich austauschen und so die curricularen Grenzen überwinden. Im Rahmen von Connect werden konkrete Fragen erörtert, diese werden vorab von den Teilnehmenden eingebracht. 

Besteht jedoch in solchen Formaten nicht die Gefahr, den Fokus zu verlieren? «Passiert das, so muss man eben einen Schritt zurückgehen», sagt Negri. Überdies ist er der Meinung, dass die Gefahr umso geringer sei, je klarer man sich an konkreten Fragestellungen orientiert. 

Dennoch sind der Einführung von Connect lange Diskussionen vorangegangen. Die Skepsis sei gross gewesen, sagt Negri, zumal jeder Fachbereich auch etwas beitragen bzw. von seinen Ressourcen beisteuern musste. Ressourcen zu verschwenden und Informationen nicht effizient auszutauschen, ist eine nicht selten gehörte Kritik am kollaborativen Lernen. Dementsprechend steigt der Koordinationsaufwand für die Dozierenden, die, wie Christian Müller von Intrinsic sagt, eben in eine neue Rolle finden müssen. Wer kollaboratives Lernen ermöglichen will, muss bereit sein, mit Gewohnheiten und auch seiner eigenen Sozialisierung als Dozent zu brechen. Die Bühne abzugeben, sei aber gar nicht so leicht, sagt Christoph Negri. Und auch der Co-Gründer von Intrinsic hält fest, dass der Wandel in den Köpfen noch längst nicht überall stattgefunden habe. 

Neue Strukturen sind notwendig

Doch kollaboratives Lernen passiert auch nicht einfach dadurch, dass Dozierende aufhören, zu dozieren. Es müssen neue Strukturen geschaffen werden, betont Björn Müller. Er ist Mitgründer von «Stride - the unSchool», einem Think Tank und Weiterbildungsanbieter rund um kollaborative Führung und soziale Innovation, Dozent und Trainer für kollaboratives Lernen an der Universität St. Gallen sowie in unternehmerischen Kontexten. Kollaborative Prozesse zu ermöglichen, ist eine seiner Hauptaufgaben als Facilitator und er weiss, dass es rasch chaotisch und unangenehm werden kann, wenn der bestimmte Rahmen fehlt. Dann, so sagt Müller, würden sich rasch informelle Machtstrukturen durchsetzen. Für Björn Müller besteht die Hauptaufgabe bei der Implementierung kollektiver Prozesse im Navigieren zwischen Rigidität und Verlorensein. Die gute Mischung zu finden, sei das Wichtigste, betont er. Es gehe zunächst darum, eine Gruppe in die Öffnung zu führen und dort zu halten. Dabei müsse man mit Frustration und Differenzen umgehen und auf persönlicher Ebene Vertrauen schaffen. Kollaborative Prozesse benötigten eine Art Safe Space, wie es Björn Müller beschreibt. 

Wer diesen Safe Space zu schaffen vermag, kreiert ein Laboratorium, aus dem man anders herausgeht, als man hineingegangen ist. Oder in den Worten von Christoph Negri: «Es ist ein Ort, wo man seine Welt neu konstruiert.» Und das ist ganz einfach Lernen, echtes Lernen, ergänzt Björn Müller, bei dem man nicht nur nach Verbesserung dessen strebe, was man tue, sondern dieses auch hinterfrage. Bei einem solchen Lernen wird die Sinnfrage gestellt. «Und das ist gefährlich», gibt Björn Müller zu bedenken.

Kein Rezept für alle

Viele Unternehmensleitungen befinden sich denn auch in einem Dilemma, wenn es um kollaboratives Lernen oder auch kollaboratives Arbeiten geht. Einerseits ist man sich bewusst: Es braucht die Dynamik und Innovationskraft, die kollaborativen Prozessen innewohnt. Andererseits schreckt man vor den Konsequenzen zurück: dem allfälligen Umbau der gesamten Organisation. Und Kollaboration ist auch kein Rezept für alle. Eine jüngere Generation schätze sie, weil sie das Bedürfnis hätte, sich anders auszudrücken, sich stärker einzubringen und sich als selbstwirksam zu erfahren, sagt Björn Müller. Aber es gebe auch die, die davon nichts wissen wollten. Und Christoph Negri ergänzt: «Es gibt Menschen, die ihren Lernweg gut und gerne allein beschreiten.»

Es müssen also nicht in jedem Fall und für alle kollaborative Settings geschaffen werden. Aber dass es durchaus ein Gewinn sein kann, lang gelebte Strukturen aufzubrechen, hat das IAP nicht zuletzt selbst durch den Wandel seiner eigenen Organisation hin zu mehr Kollaboration und Agilität erfahren. Dieser Prozess begann im Führungsgremium, das sich heute vermehrt in einer Art Sponsorenrolle sieht. Das heisst, es schafft die Voraussetzungen, dass Mitarbeitende Ideen entwickeln und umsetzen können, anstatt die Marschrichtung einfach vorzugeben. Auch haben die administrativen Mitarbeitenden gegenüber den Dozierenden eine Aufwertung erfahren; sie sind heute wesentlich stärker an Entwicklungsprozessen beteiligt als früher. Was eigentlich richtig und wichtig sei, betont Christoph Negri. 

«Wir haben dabei viel über uns selbst gelernt», sagt der IAP-Leiter. Gleichzeitig verweist er auf die Grenzen, die die Hochschulstrukturen dem IAP setzen. Dass man als Weiterbildungsinstitution aber selbst stärker zu einer lernenden Organisation werden müsse, ist für Negri unumstritten. Und dies scheint kaum ohne kollaboratives Lernen und Arbeiten zu funktionieren. 

Ronald Schenkel ist freier Journalist, er unterstützt die EP redaktionell. Kontakt: ronald.schenkel@alice.ch