07.05.2021
N°1 2021

Kein Recht auf Bildung

Abgewiesene Asylsuchende haben trotz jahrelangem Aufenthalt in der Schweiz keinen Zugang zu nachobligatorischen Bildungsangeboten. In die Lücke der staatlichen Verantwortlichkeit springen oftmals Freiwilligenorganisationen wie das Solinetz in Zürich oder die Coordination asile.ge in Genf. Nun werden politische Forderungen laut, den Bildungszugang auch für Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung zu verbessern.

Menschen mit einem negativen Asylentscheid halten sich gemäss Asylrecht illegal in der Schweiz auf. Dieser rechtliche Status bedeutet ein Leben am Existenzminimum. Seit 2007 erhalten abgewiesene Asylsuchende keine Sozialhilfe mehr, sondern Nothilfe. Diese umfasst Unterkunft, medizinische Grundversorgung sowie Nahrung und Kleidung. Die konkrete Umsetzung, beispielsweise die Art der Unterkunft oder der finanziellen Unterstützung, ist kantonal geregelt und unterliegt grossen Unterschieden. Im Kanton Zürich erhalten Nothilfebeziehende 8.50 Fr. pro Tag. In anderen Kantonen wird dieser Betrag auch in Naturalien oder in Migros- oder Coop-Gutscheinen ausbezahlt. 

Die Absicht hinter diesem prekären Zustand ist, Menschen mit einem negativen Asylentscheid zu einem schnellen Verlassen der Schweiz zu bewegen. Die Realität sieht jedoch anders aus: Fast zwei Drittel der abgewiesenen Asylsuchenden leben jahrelang in der Schweiz.1 Sie sind Teil der Schweizer Gesellschaft und können doch nicht wirklich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Dies betrifft insbesondere den Zugang zu Bildungsangeboten und zum Arbeitsmarkt. 

Während für Kinder von abgewiesenen Asylsuchenden und Sans-Papiers ein Recht auf Bildung besteht, sobald sie in der Schweiz leben, haben Personen ohne Aufenthaltsbewilligung ab dem 17. Altersjahr in den meisten Kantonen kein Recht auf Bildungsangebote im nachobligatorischen Bereich. Mit der im April 2018 beschlossenen «Integrationsagenda Schweiz» wollen Bund und Kantone anerkannte Flüchtlinge sowie vorläufig Aufgenommene stärker bei der Aus- und Weiterbildung unterstützen, doch besteht für abgewiesene Asylsuchende kein Förderauftrag.2

Solinetz leistet wichtige Bildungsarbeit in Zürich

In die Lücke der staatlichen Verantwortlichkeit springen oftmals Freiwilligenorganisationen. So zum Beispiel das Solinetz, das sich für Flüchtlinge und Sans-Papiers im Raum Zürich einsetzt. Der Verein wurde in Folge der Verschärfung der Schweizerischen Asylgesetzgebung 2009 gegründet und sucht insbesondere Personen in Nothilfezentren zu erreichen – also jene Menschen, denen der Zugang zu Bildung in der Schweiz in den staatlichen Regelstrukturen aufgrund eines negativen Asylentscheids verwehrt ist. 

Die Basis für die erfolgreiche Freiwilligenarbeit des Solinetzes ist der persönliche Kontakt und Austausch zwischen Geflüchteten und Ansässigen. Der Verein hat ein internes Weiterbildungsangebot für seine Freiwilligen aufgebaut, bei dem insbesondere Fragen des respektvollen und hierarchiefreien Miteinanders im Vordergrund stehen. 2019 engagierten sich rund 490 Freiwillige in 52 Projekten, wobei es sich bei knapp der Hälfte dieser Projekte um Deutschkurse handelte, aber auch ein Computer- und ein Mathematikkurs wurden angeboten. Daneben führten Freiwillige regelmässig Besuche in Nothilfezentren und Ausschaffungsgefängnissen durch, boten Spielnachmittage für Kinder an oder organisierten Ferienlager.3 Viele Projekte laufen bereits seit mehreren Jahren, was eine gewisse Kontinuität sicherstellt und den Zugang zu den Menschen in den Nothilfezentren erleichtert.

Die Corona-Pandemie stellte die auf persönliche Begegnungen ausgerichtete Arbeit des Solinetzes 2020 vor grosse Schwierigkeiten. Der erste Lockdown im März führte zu einer totalen Einstellung der Aktivitäten. Der Verein musste sein Engagement darauf beschränken, über die epidemiologisch problematischen Zustände in den Nothilfezentren zu informieren. Mit den freigewordenen finanziellen Mitteln wurden zudem die Handyrechnungen von Geflüchteten bezahlt, damit ihnen zumindest eine gewisse Kommunikation ermöglicht blieb. Als die Massnahmen im Sommer etwas gelockert wurden, konnte ein Grossteil des Angebotes wieder aufgenommen werden und viele Freiwillige tauschten Handynummern oder E-Mail-Adressen mit ihren Teilnehmenden aus, um bei einer erneuten Schliessung in Kontakt bleiben zu können. In Folge des zweiten Präsenzverbotes im Herbst baute der Verein zudem ein Online-Deutschkursangebot auf. 

Ursprünglich waren Online-Angebote nur für Menschen mit einer körperlichen Behinderung gedacht, doch erwies es sich im November auch für die regulären Deutschkurse als sinnvoll. Die Online-Kurse sind so niederschwellig wie möglich organisiert: In einer Kurzweiterbildung erlernen die freiwilligen Kursleitenden die technischen Grundlagen für den Online-Unterricht mit Zoom und Whatsapp. Die Teilnehmenden brauchen lediglich ein Smartphone und Kopfhörer. Vor der Kurszuteilung wird telefonisch das Sprachniveau abgeklärt, was – wie sich in den letzten Monaten gezeigt hat – eine gezieltere Förderung innerhalb der aus vier bis acht Teilnehmenden bestehenden Kurse erlaubt. Mittlerweile führen 30 Kursleitende mit rund 130 Deutschlernenden wöchentlich Online-Unterricht durch. 

Das Interesse der Teilnehmenden ist gross und die Warteliste entsprechend lang. Besonders Frauen nehmen gerne an den Online-Kursen teil, da sich diese besser mit der Kinderbetreuung vereinbaren lassen. Obwohl die grosse Nachfrage für den Erfolg des Online-Angebotes spricht, stellt sie derzeit die grösste Herausforderung für das Solinetz dar. Infolge der Corona-Pandemie sind die Grenzen der Freiwilligenarbeit deutlicher hervorgetreten, da viele Freiwillige nicht bereit sind, ihre Tätigkeit, die von der persönlichen Begegnung lebt, online weiterzuführen. Im letzten Jahr ist es noch schwerer geworden, dem riesigen Bildungsbedarf im Asylbereich mit Freiwilligenarbeit nachzukommen.

Bildungszugang für Geflüchtete als politisches Thema

Ein wichtiger Aspekt bei der Frage nach dem Bildungszugang für Geflüchtete ist, dass ein Grossteil derselben sehr jung ist und damit am Anfang des Berufslebens steht. Im Rahmen der Integrationsagenda haben sich Bund und Kantone das Ziel gesetzt, dass Geflüchtete bis zum Alter von 25 Jahren dabei unterstützt werden, einen Abschluss auf Sekundarstufe II (Berufs- oder Mittelschulabschluss) zu erreichen. Allerdings betrifft dies nur vorläufig Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge, während junge Menschen mit eingereichtem oder abgewiesenem Asylgesuch kein Anspruch auf vollzeitliche Bildungsgänge haben. 

Der Genfer Verein Coordination asile.ge unterstützt bereits seit 1985 Geflüchtete in seinem Kanton. 2019 hat sich innerhalb der Organisation ein freiwilliges Kollektiv gebildet, das sich für den Bildungszugang der besonders vulnerablen Personengruppe der jungen abgewiesenen Asylsuchenden einsetzt. Das Kollektiv versucht, alle zwischen 15 und 25 Jahre alten Geflüchteten mit negativem Asylentscheid in Genf zu erfassen, um sich ein Bild von ihrer Situation zu machen und die Möglichkeit einer Legalisierung des Aufenthaltsstatus zu prüfen. Teilweise unterstützt das Kollektiv die Jugendlichen und jungen Erwachsenen individuell bei der Suche nach Aus- und Weiterbildungen. 

Die Arbeit von Freiwilligenorganisationen wie dem Solinetz und der Coordination asile.ge weist darauf hin, dass im Asylbereich ein grosser Bildungsbedarf besteht, der von staatlicher Seite unzureichend gedeckt wird. Nun werden politische Forderungen laut, den Zugang zu Bildungsangeboten für Geflüchtete zu verbessern. Der Verein «Bildung für alle – jetzt!», hinter dem Organisationen wie der VPOD, der Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) und Solidarité sans Frontières (sofs) stehen, hat 2020 eine Petition lanciert, die darauf abzielt, Geflüchteten den Zugang zu Bildung auf allen Bildungsstufen zu ermöglichen. 

Im Bereich der Weiterbildung bedeutet dies konkret, dass innerhalb der staatlich geförderten Weiterbildung (gemäss Weiterbildungsgesetz) Angebote aufgebaut werden sollen, die es Geflüchteten ermöglichen, relevantes Wissen und Kompetenzen im Sinne der schulischen Grundbildung sowie der Aus- und Weiterbildung zu erwerben. Ein zentrales Anliegen des Vereins ist, dass auch Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung wie abgewiesene Asylsuchende ein Recht auf Bildung erhalten. In einem Positionspapier vom 18. Januar 2020 formuliert der Verein seine Vision einer «Bildung für alle» wie folgt:

«Alle Menschen, die in der Schweiz leben, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, sollen sich im Rahmen ihrer individuellen Potenziale bilden, ausbilden, weiterbilden, eine ihren Fähigkeiten entsprechende Arbeit finden, am gesellschaftlichen Leben teilhaben (Partizipation) und ihr Leben selbstbestimmt gestalten (Emanzipation) können.»

Obwohl das Bewusstsein für die Relevanz des Bildungs- und Arbeitsmarktzugangs von Geflüchteten in den letzten Jahren auf politischer Ebene gewachsen ist, scheint diese Vision noch in weiter Ferne zu sein. Mit der Integrationsagenda haben Bund und Kantone ihre Bemühungen zur Förderung von vorläufig Aufgenommenen und anerkannten Flüchtlingen zwar verstärkt, doch wird vielen Menschen in der Schweiz nach wie vor das Recht auf Bildung abgesprochen. 

Links zu den Organisationen

Coordination asile.ge: https://coordination-asile-ge.ch/

  1. Vgl. Polli, Tanja: Endstation Nothilfe, Beobachter (18. August 2015). <https://www.beobachter.ch/migration/asylverfahren-endstation-nothilfe>
  2. Bei Asylsuchenden mit einem eingereichten Asylgesuch, dessen Entscheid noch aussteht, obliegt es den Gemeinden, zu entscheiden, ob sie Angebote wie Deutschkurse finanziell unterstützen wollen.
  3. Vgl. Das Solinetz, Jahresbericht 2019 (März 2020). <https://solinetz-zh.ch/wp-content/uploads/200226_soli_portrait_rz_ANSICHT.pdf>
  4. Vgl. Jahresbericht Solinetz 2019.
  5. Vgl. Positionspapier «Gleichwertige Bildung für alle – Keine Diskriminierung von Geflüchteten!».

Sofie Gollob ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim SVEB. Kontakt: sofie.gollob@alice.ch

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