Individualisierung setzt Rahmenbedingungen voraus
Die Erfahrungen mit Online-Settings während der Pandemie und die Umsetzung echter hybrider Angebotsformen nach Covid haben die Individualisierung in der Weiterbildung befördert. Gleichzeitig bleibt Lernen ein sozialer Akt. Das ist kein Widerspruch. Vielmehr ergänzen sich diese zwei Seiten derselben Medaille. Vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen stimmen.
In der Erwachsenen- und Weiterbildung ist jüngst viel von Individualisierung die Rede. Sie scheint damit eine gesellschaftliche Entwicklung aufzunehmen, in der Zukunftsforscher gar einen Megatrend beobachten wollen. Die individuelle Gestaltung der eigenen privaten und beruflichen Biografie – losgelöst von Traditionen und Normen, angetrieben von der Notwendigkeit, die eigenen Kompetenzen einer immer rascher sich wandelnden Arbeitswelt anzupassen oder völlig neue Bahnen einzuschlagen – scheint tatsächlich dem Zeitgeist zu entsprechen. Und die Weiterbildung reagiert darauf mit Angeboten, die auf individuell unterschiedliche Situationen und Bedürfnisse eingehen.
Doch Individualisierung war der Weiterbildung nie wirklich fremd. Das Konzept der Teilnehmer- und Lebensweltorientierung prägt sie schon seit langem. Fragt man etwa bei Anbietern im Bereich Grundkompetenzen nach, so betonen diese die Bedeutung der individuellen Begleitung von Teilnehmenden in Kursen vor Ort. Wer mit heterogenen Gruppen arbeite, könne damit einzelnen Bedürfnissen gerechter werden, auch wenn dafür der Aufwand an Zeit und Ressourcen höher ausfalle, wird berichtet.
Auch die Ko-Kreation von Lerninhalten durch die Teilnehmenden wird von Anbietern als Form der Individualisierung der Angebote bezeichnet. Der Einbezug des jeweiligen Lebensalltags oder Freiräume, die eigene Kreativität auszuleben – zum Beispiel in Gestaltungskursen – sind weitere Aspekte individualisierter Kursgestaltung in mehr oder weniger traditionellen Settings.
Neue Erlebnisse
Aber es ist nicht zu leugnen, dass der Digitalisierungsschub, den die Corona-Pandemie und das mit ihr einhergehende Präsenzverbot der Weiterbildung beschert haben, wesentlich zu einer stärkeren Individualisierung der Angebote beigetragen hat. Das hat indes weniger mit neuen technologischen Entwicklungen oder Kursmodellen zu tun – Konzepte wie Blended Learning und die entsprechende Technologie, sie umzusetzen, existierten lange schon vor der Pandemie. Vielmehr hat sich in den Köpfen der Organisationsverantwortlichen, Dozierenden und Teilnehmenden etwas verändert.
Der erzwungene Online-Unterricht habe Erlebnisse geschaffen, sagt Thomas Kölliker, Leiter Weiterbildung und Vizedirektor der WKS KV Bildung in Bern. Unter Umständen öffnete er den Blick auch für neue Möglichkeiten. Individualisierung in der Weiterbildung passiert denn zwar oft unter Verwendung digitaler Technologien. Aber es ist keine rein technologische Angelegenheit.
Die Technologie habe zu einer räumlichen Entgrenzung geführt, sagt Benjamin Moser, Bereichsleiter Beratung bei aeB Schweiz – der Akademie für Erwachsenenbildung. In diesem erweiterten Raum könne man vielerlei Lernressourcen parallel, synchron oder asynchron zur Verfügung stellen, was zu neuen Individualisierungsformen führen könne. Umso wichtiger sei es deshalb, didaktische Konzepte zu entwickeln, die diese Lernressourcen in ihren Unterschieden und Qualitäten berücksichtigten. Altes in neue Formen zu übertragen – etwa Präsenzveranstaltungen eins zu eins online stellen –, bringe keinen Mehrwert. Im Gegenteil: Gutes verliere in seiner ursprünglichen Qualität.
Neue Konzepte
Um zu neuen Konzepten zu gelangen, kann man aber durchaus auf Bewährtes zurückgreifen. Wichtige Voraussetzung sei die Durchführung einer didaktischen Analyse, sagt Moser. Zunächst müsse man sich überlegen, was man erreichen wolle; welche Kompetenzen sollen erworben werden und welchen Leitfragen folge man in einem bestimmten Lernsetting. Dann könne man die Methoden und den Lernweg bestimmen. Schliesslich folge die Wahl der Werkzeuge und der technischen Hilfsmittel. Die Individualisierung der Angebote entstünde auf der Ebene des Raums dort, wo Wahlmöglichkeiten geschaffen würden. Diese zahlten auf den Lernerfolg ein; denn könne man den Lernweg wählen, der einem entspreche, lerne man effektiver, sagt Moser.
Doch auch eine andere Wahrheit bleibt im Zeitalter des digitalen Lernens bestehen: Lernen ist ein sozialer Akt. Individualisierung und soziale Aspekte des Lernens stehen aber in keinem Widerspruch. Vielmehr kann das eine durch das andere gewinnen. Thomas Kölliker und Benjamin Moser bestätigen gleichermassen, dass hybride Lernsettings inzwischen stark nachgefragt werden. «Aber es kommt niemand mehr in den Präsenzunterricht, nur um sich Powerpoint-Folien anzuschauen», sagt Kölliker.
In seiner Wahrnehmung entfaltet das Blended Learning erst jetzt sein Potenzial, indem die Zeit vor Ort tatsächlich zur Diskussion und Vertiefung genutzt wird, während die Wissensvermittlung in anderen Settings vollzogen werde, nicht zuletzt auch in selbstgesteuertem Lernen. Benjamin Moser betont in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung von Lerngruppen, die man mit Aufträgen versehen könne. «Auch das ist nicht wirklich neu», sagt er. Projektbasiertes oder problemorientiertes Lernen seien Konzepte, die schon relativ lange erfolgreich eingesetzt werden.
Die neuen Rollen der Dozierenden
Aber diese Konzepte müssen gestaltet werden. Dozierende sehen sich dabei vor Aufgaben gestellt, die für sie unter Umständen Neuland bedeuten. Gute Aufgaben für selbstgesteuertes Lernen zu entwickeln oder ein Lernvideo zu produzieren, seien deshalb nicht einfach eine Selbstverständlichkeit für die Dozierenden, so Thomas Kölliker. Und wer sich im Laufe seiner Tätigkeit als «Miliz-Dozentin oder -Dozent» einen bestimmen Stil angeeignet habe, für den oder die bedeute ein Rollenwechsel hin zum Coach eine grosse Herausforderung.
Ohne die Unterstützung der Organisation ist dies kaum möglich. Die Begleitung der Dozierenden wird zu einer zentralen Aufgabe im Prozess hin zu neuen Konzepten. Auch Tools, die man zur Verfügung stelle, seien wichtig, sagt Kölliker. Das können Vorlagen für Aufgaben zum selbstgesteuerten Lernen sein, aber auch der Prototyp eines Storyboards für ein Video. Schliesslich muss auch nicht jede Organisation alles alleine stemmen. «Die KV-Familie rückt in dieser Zeit näher zusammen», sagt Kölliker. Kooperationen werden wichtiger, unter Umständen entscheidend, wenn man die Kosten ins Auge fasst.
Die Grenzen der Individualisierung
Die Individualisierung hat indes auch Grenzen. Benjamin Moser zieht sie dort, wo man den sozialen Aspekt nicht mehr gewährleisten kann. Thomas Kölliker sieht das ähnlich und sagt: «Eben weil Lernen ein sozialer Akt ist, braucht es uns.» Wichtig ist deshalb auch die Kommunikation gegenüber den Teilnehmenden. Auch in einer individualisierten Weiterbildung gebe es nicht verhandelbare Rahmenbedingungen, betont Benjamin Moser. Natürlich würden sich mitunter Interessierte nicht darauf einlassen wollen. Doch das sei eben Teil eines Selektionsprozesses.
Habe man die Spielräume abgesteckt, bestünden Grenzen eigentlich nur noch in den Köpfen, sagt Moser. Eine solche Grenze kann zum Beispiel die Vorstellung sein, das Feedback des Dozierenden sei wichtiger als dasjenige der Mitstudierenden. Das sei aus fachlicher Perspektive wohl nicht ganz falsch, meint Moser. Aber gerade in individualisierten Settings ist ein einzelner Dozent, eine einzelne Dozentin vielleicht überfordert, eine Vielzahl qualifizierter Feedbacks abzugeben. Dann sei es sinnvoller, zuerst in der Gesamtgruppe zu trainieren, worauf es beim Feedback ankomme, damit die Studierenden ihrerseits qualifiziert Feedback geben können. Oder man bezieht sogenannte Blended Professionals ein oder Ehemalige. «Sobald man sich von der Grenze im Kopf befreit, findet man Lösungen, die unter Umständen sogar effektiver sind», so der Bereichsleiter der aeB.
Barrieren in Köpfen abzubauen, ist wohl auch im Hinblick auf die künftige Entwicklung angesagt. Die Digitalisierung und Weiterentwicklung von künstlicher Intelligenz werde es ermöglichen, dass die Unterrichtsinhalte noch stärker personalisiert würden, sagt der Verantwortliche einer grossen Bildungsinstitution in einer Umfrage des SVEB. Benjamin Moser sieht dem Heraufziehen neuer Technologien wie KI oder einer Plattform wie Metaverse gelassen entgegen. Solange man sich klar bewusst sei, worin die Kernaufgabe bestehe, habe man es in den Händen, auch Neues zu integrieren, sagt er.
Einige Aufgaben sind allerdings noch zu bewältigen. So schwebt Moser beispielsweise ein Learning-Management-System vor, das zentral lernpsychologische Komponenten berücksichtigt. Wie in einem realen Raum müsse man sich auch in einer virtuellen Umgebung orientieren können – und Vertrautes vorfinden wie die Kaffeemaschine im analogen Klassenraum. Hier ortet Moser noch grosses Potenzial. Es auszuschöpfen, ist in einer noch stärker digitalisierten Bildungswelt deshalb entscheidend, weil die Gesetzmässigkeiten des Lernens eben bestehen bleiben: «Bevor der Mensch überhaupt bereit ist zu lernen, muss er sich sicher und in Verbindung fühlen», sagt Moser. Den Aufwand, diese Voraussetzungen zu erfüllen, habe man in traditionellen Settings längst geleistet. Jetzt müsse man es auf einer komplexeren Ebene ebenso tun.