23.05.2023
N°1 2023

Individualisierung in der Weiterbildung

In der Soziologie wird seit den 1960er Jahren von zunehmenden Individualisierungstendenzen gesprochen. Den unterschiedlichen Konzepten, die der oft kontroversen Diskussion um diese Entwicklung zugrunde liegen, ist gemein, dass sie dem Individuum in der Gesellschaft wachsende Bedeutung zuschreiben. Dabei wird der einzelne Mensch mit seinen Bedürfnissen, Entscheidungen und Lebensentwürfen als zunehmend eigenverantwortliches, autonomes Individuum begriffen. Aus diesen Analysen lassen sich sehr unterschiedliche Schlüsse ziehen. Während die einen Individualisierung als wachsende Autonomie und Befreiung aus einengenden Strukturen oder Konventionen verstehen, nehmen andere dieselbe Entwicklung als Vereinzelung wahr und befürchten wachsenden Egoismus, Orientierungslosigkeit oder den Zwang zur Selbstoptimierung. Bei aller Unterschiedlichkeit haben die diversen Zeitdiagnosen eines gemeinsam: Sie sehen die Individualisierung als langfristigen, tiefgreifenden, widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess. 

Parallel zu dieser gesellschaftlichen Entwicklung beschäftigt sich auch die Erwachsenenbildung seit langem mit Individualisierungsprozessen, wie Birte Egloff im einleitenden Beitrag zu dieser EP zeigt: Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lässt sich eine Tendenz beobachten, Erwachsene in der Bildungsarbeit zunehmend als eigenständige Subjekte wahrzunehmen, die selbst über ihre Biografie und damit auch über ihre Lernbedürfnisse entscheiden. Auf didaktischer Ebene zeigt sich diese Tendenz unter anderem im Anspruch der Teilnehmerorientierung. Weitere Anschlüsse an die gesellschaftliche Individualisierung ortet Egloff in didaktischen Konzepten wie jenem der Selbststeuerung sowie in der zunehmenden Bedeutung der Biografie- und Lebensweltorientierung in der Erwachsenenbildung. 

Ausgehend von dieser einleitenden Differenzierung und Kontextualisierung des Individualisierungsbegriffs gibt diese EP Einblick in Möglichkeiten, Risiken und Grenzen der Individualisierung. Gilles Pinte analysiert einige Reformen der beruflichen Weiterbildung in den letzten 30 Jahren in Frankreich und zieht mit Blick auf den Individualisierungsprozess, der den Reformen zugrunde liegt, eine durchzogene Bilanz. Kritische Fragen stellen auch Kenneth Horvath, Andrea Isabel Frei und Mario Steinberg in ihrer Auseinandersetzung mit der verbreiteten Erwartung, dass die radikale Personalisierung von Bildungsprozessen mittels künstlicher Intelligenz zu mehr Gerechtigkeit führen würde. In weiteren Dossier-Beiträgen gehen die Autorinnen und Autoren den Potenzialen der Individualisierung nach. So analysiert Tim Stanik die traditionellen Antworten der Weiterbildung auf die  Herausforderungen der Individualisierung. Kerstin Kupka und Mareike Kholin zeigen, wie Individualisierung mit Hilfe technologischer Plattformen in der Förderung der Grundkompetenzen aussehen kann.

Im Praxisteil geben die Autorinnen und Autoren Einblick in konkrete Erfahrungen mit der Individualisierung auf unterschiedlichen Gebieten. Thematisiert werden die Umsetzung individualisierter Lernangebote auf dem Hintergrund der Covid-Pandemie (Ronald Schenkel), technologische Lösungen zur Personalisierung des Lernens (Christoph Meier), Erfahrungen mit der individuellen Förderung des Lerntransfers im Betrieb (Marcel Lemp und Susan Göldi) sowie die Personalisierung der Hochschullehre (Klaus Joller-Graf).

In der Carte Blanche zeigt Geri Thomann, wie Metaphern in Bildungsorganisationen genutzt werden können, um verdeckte Muster beschreibbar zu machen und schwierige Themen zur Sprache zu bringen.

Mit dieser EP möchten wir einen Beitrag leisten zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen von Individualisierungsprozessen in der Weiterbildung.