Erwachsenenbildung und Individualisierung
Der Begriff der Individualisierung ist vor allem durch seine Vielgestaltigkeit und damit auch Unschärfe charakterisiert. Im Kontext der Erwachsenenbildung spielt er auf theoretischer wie praktischer Ebene schon lange eine Rolle und hat in jüngster Zeit, insbesondere im Zusammenhang mit den Digitalisierungsschüben während der Corona-Pandemie, einen weiteren Aufschwung erfahren. Doch was genau ist damit eigentlich gemeint und wie zeigt sich Individualisierung in der Erwachsenenbildung? Der folgende Beitrag diskutiert einige Aspekte des Konzepts und fragt nach dessen Möglichkeiten und Grenzen.
In der Erwachsenenbildung sind – gerade auch im Kontext von Digitalisierung – zunehmend Tendenzen zu beobachten, die sich unter dem Schlagwort «individuelles Lernen» zusammenfassen lassen und damit dem gesamtgesellschaftlich auszumachenden Trend zur «Individualisierung» folgen. Ob in der allgemeinen oder beruflich-betrieblichen Erwachsenenbildung, überall finden sich Entwicklungen, bei denen klassische Kursangebote abgelöst werden durch Lehr-/Lernarrangements, die an den Bedürfnissen des einzelnen Erwachsenen ansetzen und zeitlich, räumlich sowie inhaltlich-didaktisch flexibel organisiert sind. An einem konkreten Beispiel aus dem Bereich der Alphabetisierung/Grundbildung der Volkshochschule Frankfurt am Main möchte ich das zunächst veranschaulichen:
Hier werden im Projekt «1zu1BASICS_plus» seit 2021 «gering literalisierte» Erwachsene1 mit ehrenamtlichen Lernpat*innen zusammengebracht, die deren Lese- und Schreiblernbemühungen in direkten und persönlichen, zeitlich und räumlich variierenden, auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenen Lehr-/Lernsettings begleiten und unterstützen. Dieses im Rahmen der AlphaDekade2 durchgeführte Projekt ist Bestandteil einer lebensweltorientierten Grundbildungsarbeit, die mit neuen und innovativen Formaten (Einzelfördermassnahmen) die Zielgruppe in ihrem direkten Lebens- und Sozialumfeld zu erreichen versucht. Es reagiert damit zum einen auf die Tatsache, dass nur ein sehr geringer Anteil (0,7%) der als gering literalisiert identifizierten Erwachsenen überhaupt (Kurs-)angebote zur Alphabetisierung/Grundbildung wahrnimmt (vgl. Grotlüschen et al. 2020, S. 47) und zum anderen auf den Umstand, dass es sich hinsichtlich der Lernvoraussetzungen um eine sehr heterogene Zielgruppe handelt, die sowieso schon immer eine didaktische Binnendifferenzierung in den Kursen erforderlich machte, was die Kursleitenden damit aber zugleich vor besondere Herausforderungen stellte (vgl. Löffler & Weis 2016). Die Lernpat*innen, die sich aus der von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) organisierten Ehrenamtsagentur rekrutieren, werden fachlich geschult, in ihrer Arbeit angeleitet und auch kollegial beraten. Zudem bekommen sie entsprechendes Material zur Verfügung gestellt, mit dem sie während der Treffen, die beispielsweise in Stadtteilbibliotheken, Lerntreffs oder Familienzentren stattfinden, arbeiten können. Dieses passgenaue, stark individualisierte, dennoch vielfach vernetzte Lernangebot hat sich auch zum Ziel gesetzt, gering Literalisierte zu motivieren, sich mit ihrer (biografischen) Situation reflexiv auseinanderzusetzen und gegebenenfalls an weiterführenden Angeboten (beispielsweise im Bereich nachholender Schulabschlüsse) teilzunehmen, mithin sich stärker an Erwachsenenbildung zu beteiligen (vgl. Dietsche, Lück & Walpuski 2022). Insofern trägt dieses Format individualisierten Lernens zur Förderung gesellschaftlicher Teilhabe bei.
Soweit das hier nur grob skizzierte Projekt, das zwar einem spezifischen Segment entstammt, so oder ähnlich aber exemplarisch für viele andere Bereiche innerhalb der Erwachsenenbildung steht und als Beleg für den Individualisierungs-Trend dienen kann.
Doch was steckt eigentlich hinter diesem nicht ganz eindeutigen und eigentlich auch nicht ganz neuen Begriff der Individualisierung? Geht es lediglich um eine grössere Flexibilisierung und Personalisierung von Lehr-/Lernsettings im Sinne einer Art Kundenorientierung? Oder ist mehr dahinter? Wo sind Grenzen der Individualisierung und welche Schlussfolgerungen lassen sich für die Erwachsenenbildungspraxis daraus ziehen?
Diesen Fragen geht der folgende Beitrag nach. Er erhebt dabei nicht den Anspruch, das Phänomen in allen seinen Facetten vollständig zu durchdringen – was angesichts seiner Komplexität kaum möglich wäre. Vielmehr besteht das Ziel des Artikels darin, aus erwachsenenpädagogischer Perspektive einige der Dimensionen herauszuarbeiten und ihre Bedeutung für Wissenschaft und Praxis der Erwachsenenbildung darzulegen. Der Beitrag ist so aufgebaut, dass ich zunächst kurz auf das soziologische Konzept der Individualisierung eingehe (2) und dann danach frage, inwiefern es anschlussfähig an die Erwachsenenbildung ist (3) und dies anhand von drei Dimensionen aufzeige. Der Beitrag schliesst mit einem kurzen Ausblick (4).
Individualisierung als Ausdruck und Folge gesellschaftlicher Veränderungen
Das genannte Beispiel aus der Praxis zeigt eine sehr konkrete Möglichkeit, wie Individualisierung im Rahmen von Erwachsenenbildung interpretiert werden kann: als personalisiertes, ganz auf den Erwachsenen und seine Ressourcen und biografischen Dispositionen zugeschnittenes, zeitlich, räumlich, sozial und inhaltlich flexibles Lernangebot, das Erwachsene in ihren individuellen Weiterbildungsbemühungen (professionell) assistiert und bestärkt und eine Passung zwischen individuellem Bedarf und vorhandenen Lernangeboten herstellt.
Individualisierung ist aber zunächst ein auf einer abstrakteren Ebene angesiedeltes (soziologisches) Konzept, mit dem – ganz allgemein – ein Prozess innerhalb der Herausbildung moderner Gesellschaften bezeichnet wird, bei dem der einzelne Mensch – lange wahrgenommen als Teil einer Gruppe (z.B. eines Standes) mit festgefügten Strukturen, Normen und Erwartungen – zunehmend als eigenverantwortlich für sein Leben, in seinen biografischen Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und damit in seiner Autonomie in den Mittelpunkt rückt. Soziologisch ausgedrückt meint Individualisierung somit die «zunehmende Bedeutung des Individuums für den Vergesellschaftungsprozess» (Junge 2002, S. 9).
Der Begriff steht in Verbindung mit weiteren, hier nicht näher erläuterten Konzepten, mit denen gesellschaftliche Umbrüche und Transformationsprozesse beschrieben wurden (und noch werden), wie etwa Entstandardisierung (z.B. der Erwerbsarbeit), Enttraditionalisierung (z.B. von Lebensformen), Entgrenzung (z.B. der Lebensalter) usw. Er steht auch im Zusammenhang mit Fragen und sozial- und erziehungswissenschaftlichen Diskursen etwa zu Übergängen im Lebensverlauf, Chancengerechtigkeit und sozialer (Un-)Gleichheit sowie Heterogenität/Differenz (vgl. z.B. Walther et al. 2020).
Das Konzept der Individualisierung (auch als «Individualisierungstheorem» bezeichnet) hat insbesondere ab Mitte der 1980er Jahre mit den zeitdiagnostischen Publikationen der Soziolog*innen Antony Giddens, Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (vgl. Beck 1986; Beck & Beck-Gernsheim 1994; Beck, Giddens & Lash 1996) zu neuer3 Aufmerksamkeit in den Sozialwissenschaften und damit auch den Erziehungswissenschaften und der Erwachsenenbildung geführt (vgl. z.B. Kade 1989). Mit Blick u.a. auf die Pluralisierung von Lebensformen und Biografiemustern (zumindest in den (westlichen) Industrieländern) heben die genannten Autor*innen den doppelten Charakter von Individualisierung hervor: Einerseits erhöhen sich die Möglichkeiten und Freiheitsgrade in vielen Bereichen der Gesellschaft für den Einzelnen, andererseits ist damit aber auch ein gewisser Druck, gar Zwang verbunden, autonom mit diesen Freiheiten umzugehen, Wahlmöglichkeiten abzuwägen und Entscheidungen reflektiert zu treffen, ggf. zu legitimieren und seine Biografie aktiv und flexibel zu gestalten. Somit stehen die Individuen vor bestimmten Herausforderungen, haben ein hohes Mass an Eigenverantwortlichkeit im Hinblick auf ihre Lebensgestaltung, sobald Sicherheiten zerbrechen und Traditionen verschwinden. Beck & Beck-Gernsheim (1994, S. 13) sprechen in dem Zusammenhang von einer «Bastel- oder Wahlbiographie» oder auch von einer «reflexiven Biographie» (ebd.), für die es eine Fülle an Möglichkeiten gibt, aus denen die Individuen sich immer wieder aktiv für etwas entscheiden müssen.
Ohne an dieser Stelle die weitere Entwicklung dieser soziologischen Zeitdiagnosen und Gesellschaftsanalysen im Detail nachzeichnen zu können, bleibt festzuhalten, dass sich im Rahmen weiterer Entwicklungs- und Veränderungsprozesse am Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts die prinzipiellen Möglichkeiten und Angebote, sich selbst als Individuum ins Verhältnis zur Welt und zur Gesellschaft zu setzen, sein Leben auf die eine oder andere Art zu führen und individuelle wie kollektiv gewährte Freiheitsgrade und Optionen zu nutzen (z.B. im Bereich Lebensformen, Freizeit und Konsum, digitale Medien, Arbeits- und Berufswelt), noch einmal vervielfältigt haben. Insofern ist Individualisierung im Kontext gesellschaftlicher Transformationen (und Krisen) nach wie vor ein Thema. Fragt man nun danach, welche Rolle die Erwachsenenbildung dabei einnehmen kann, liesse sich folgende Antwort darauf geben: Erwachsenenbildung greift den sich bietenden Möglichkeitsraum auf, indem sie in einer stimulierenden Funktion Erwachsene in der Wahrnehmung ihrer Lern- und Bildungsmöglichkeiten und damit der persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung animiert und unterstützt – abstrakt durch übergeordnete Konzepte wie das des «lebensbegleitenden Lernens», das als gesellschaftliche Leitidee präsent ist und auf breite Resonanz stösst; konkret durch ein grosses Spektrum an (Weiter-)Bildungsthemen und -angeboten, wie sie sich in Programmen von unterschiedlichen Weiterbildungseinrichtungen wiederfinden und das es Erwachsenen ermöglicht, sich in jeder erdenklichen Richtung weiterzuentwickeln, zu qualifizieren oder seinem Leben eine andere und neue Richtung zu geben. In einer orientierungs- und ordnungsstiftenden Funktion hilft die Erwachsenenbildung orientierungslos gewordenen Erwachsenen aber auch dabei, sich in einer komplex gewordenen Welt (wieder) zurechtzufinden. Hier kommt der Weiterbildungs-, Lern- und Lebensberatung eine wichtige Rolle zu, die Erwachsene dazu ermächtigt, mit den zunehmenden Anforderungen, Zumutungen und Wahlmöglichkeiten zurechtzukommen, neue Sinn- und Identitätsstrukturen aufzubauen und für sich selbst passende Wege zu finden.
Zur Anschlussfähigkeit der Erwachsenenbildung an Individualisierung
Dass Erwachsenenbildung und Individualisierung nicht erst mit den soziologischen Zeitdiagnosen in Verbindung gebracht wurden und dies insofern eben nicht neu ist, möchte ich im Folgenden an drei Ebenen aufzeigen: auf einer historischen Ebene, auf einer theoretisch-empirischen Ebene sowie auf inhaltlich-didaktischer Ebene.
Ein historischer Blick auf die (organisierte) Erwachsenenbildung zeigt, dass sich diese seit ihren Anfängen, die in der Regel auf den Beginn der Aufklärung datiert sind, nicht nur institutionell ausdifferenziert, sondern im Laufe der Zeit auch das Bild und das Verständnis über ihre Adressat*innen verändert hat. Nach Seitter (2007, S. 135ff.) lässt sich mit den Bezeichnungen «Volksbildung», «Erwachsenenbildung», «Weiterbildung» und «Lebenslanges Lernen» eine Entwicklung aufzeigen, die den Erwachsenen mehr und mehr als Individuum und in seiner Individualität ins Zentrum rückt. So enthält der seit dem 18. Jahrhundert bis ca. in die 1920er Jahre verwendete Begriff der Volksbildung eine Vorstellung von Erwachsenen als Teil eines Kollektivs (Volk) mit einer noch starken Einbindung in traditionelle Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Lernen und Weiterbildung waren recht eng auf den Bereich des «örtlichen Mikrokosmos» (ebd., S. 136) ausgerichtet, bei der Individualität noch keine Rolle spielte, die Erwachsenen vielmehr ihren angestammten Platz in einer weitgehend auf festen Abläufen beruhenden Gesellschaft innehatten. Lebenswege waren häufig vorgezeichnet und in der Folge war auch das, was gelernt wurde, auf einen kleinen Ausschnitt der unmittelbaren Lebenswelt begrenzt und fand überwiegend in Form der Belehrung statt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich dann langsam die Bezeichnung «Erwachsenenbildung» durch. Erwachsene traten nun stärker als eigenständige Individuen und Adressat*innen von Bildung in den Blick, gerade auch in bewusster Abgrenzung zu Schüler*innen, die noch der Erziehung und Belehrung bedurften. «Erwachsenenbildung verstand sich daher als Element zur Kultivierung eines Selbst, das seinen Platz innerhalb eines Lebenskreises oder einer Schicht schon gefunden hatte, das diesen Platz allerdings reflektierter und kultivierter einnehmen und im Dialog mit anderen Erwachsenen die Relativität seiner eigenen Position erkennen sollte.» (ebd., S. 138). Darauf richteten sich die Angebote und didaktischen Arrangements, die sich von einer reinen Vermittlung und Verbreitung von Wissen in Form der Belehrung ausweiteten auf ganzheitliche, individualisierende und adressatenbezogene Formen, die zu Reflexion und Kommunikation anregen sollten. In den 1970er Jahren wurde im Zusammenhang mit dem «Strukturplan für das Bildungswesen» (Deutscher Bildungsrat 1972) Erwachsenenbildung durch den Begriff «Weiterbildung» ersetzt, worunter die «Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase» (ebd., S. 197) verstanden wurde. Weiterbildung sollte nun zu einer fortwährenden und eigenverantwortlichen Aufgabe für alle Individuen einer Gesellschaft werden und zum beruflichen wie persönlichen Vorankommen beitragen. In der Folge kam es zu einem Institutionalisierungsschub in der öffentlich wie privat finanzierten Erwachsenenbildung und auch die Bedeutung und Wahrnehmung informeller, also nicht geplanter und eher zufälliger Lern- und Bildungsprozesse nahm zu. In dieser Zeit der Bildungsreform der 1960er und 1970er Jahre beginnt auch der Aufstieg des Konzeptes Lebenslanges Lernen, das den Anspruch eines ständigen Lernens und Sich-(Weiter-)Bildens noch einmal zuspitzte. Mit dem Lebenslangen Lernen tritt die Biografie des einzelnen Erwachsenen in den Fokus, die zum Bezugspunkt wird für Lern- und Bildungsprozesse, gleichgültig in welcher Form und an welchem Ort sie stattfinden.
Fasst man diese Entwicklung zusammen, kann man festhalten, dass der Erwachsene im Laufe der Zeit mehr und mehr als eigenständiges Subjekt und Träger einer individuellen Biografie wahrgenommen wird, der immer wieder vor neue Entscheidungen gestellt ist und diese aktiv treffen muss. Damit ändert sich auch der Blick auf Erwachsenenbildung, den Erwachsenen und das Lernen Erwachsener auf theoretisch-empirischer wie auf inhaltlich-didaktischer Ebene, wie in den folgenden Abschnitten etwas näher ausgeführt wird.
Auf der theoretisch-empirischen Ebene spiegelt sich der Trend zur Individualisierung in solchen Theorien wider, die den Erwachsenen als Subjekt seiner Lebensverhältnisse betrachten (vgl. Nolda 2008, S. 34ff.). Hierzu zählen beispielsweise systemisch-konstruktivistische, subjektwissenschaftliche oder auch milieutheoretische Theorien und Ansätze, die sich prinzipiell von klassischen, auf Reiz-Reaktion-Schemata und Vorstellungen einer externen Steuerbarkeit von Lern- und Bildungsprozessen basierenden Theorien abgrenzen und die stattdessen die Selbstständigkeit, Selbstorganisation, Subjektivität und Selbststeuerung im Hinblick auf Lernen, Lerngründe und Lernmotivation betonen und auf diese Weise etwa auch Lernwiderstände erklären. Es zählt ebenso der in der Erwachsenenbildung breit geführte Diskurs zum selbstgesteuerten und selbstorganisierten Lernen dazu. Die stärkere Hinwendung zum Subjekt geht auf empirischer Ebene mit einer vermehrten Nutzung und damit Aufwertung qualitativer Forschungsverfahren einher: So haben beispielsweise biografische und ethnografische Verfahren seitdem an Bedeutung gewonnen. Insgesamt stehen seit dieser Zeit Erwachsene mit ihrem Erfahrungswissen, ihren individuellen Bildungs- und Aneignungsoptionen, ihren vielfältigen Interessen und Ressourcen im Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. hierzu Nittel, von Felden & Mendel 2023).
Auf inhaltlich-didaktischer Ebene – und somit von besonderem Interesse für die Erwachsenenbildungspraxis – lässt sich der Trend zur Individualisierung nicht nur an einer Öffnung hinsichtlich Themen, Angeboten sowie Lehr-/Lern- und Beratungsformaten ablesen, sondern auch anhand zentraler die Erwachsenenbildung bestimmenden didaktischen Prinzipien abbilden, wobei insbesondere die Teilnehmer*innen-, die Biografie- und die Lebensweltorientierung in den Blick geraten (vgl. hierzu von Hippel, Kulmus & Stimm 2022). Während die – gleichfalls bedeutsamen – Adressat*innen- und Zielgruppenorientierung den Erwachsenen eher als Teil einer mehr oder weniger homogenen Gruppe mit gemeinsamen soziostrukturellen Merkmalen fasst («kollektive Lebenssituation» (Siebert 2012, S. 111) als Ausgangspunkt), deren konkrete Bedarfe und Bedürfnisse in der Regel von den Bildungseinrichtungen antizipiert werden müssen und eher auf der Programmplanungsebene angesiedelt sind, zielen Teilnehmer*innen-, Biografie- und Lebensweltorientierung auf die mikrodidaktische Ebene in der konkreten Planung und Gestaltung der Kurssituation oder des Lehr-/Lernarrangements und haben die daran teilnehmenden individuellen Erwachsenen mit ihren spezifischen Interessen, Erwartungen, Lebenslagen, biografischen und sonstigen Ressourcen und Deutungshorizonten im Blick. Von Hippel, Kulmus & Stimm (2022, S. 91) weisen dabei darauf hin, dass es bei der Umsetzung der Teilnehmer*innenorientierung nicht einfach nur um eine Erfüllung von Wünschen und Bedürfnissen der Teilnehmer*innen geht, sondern um ein systematisches Aufgreifen der Perspektiven und ein konzeptionelles Miteinplanen der Anliegen der Individuen, die aus einer bestimmten Motivation heraus und verbunden mit bestimmten Erwartungen an Kursen der Erwachsenenbildung teilnehmen, mit den von den Professionellen geplanten Inhalten und Zielen der Veranstaltung. «Gelingende Teilnehmendenorientierung wie auch gelingendes Lernen sind somit auf die Eigenleistung der Subjekte angewiesen.» (ebd.). Damit verbunden sind auf der anderen Seite «Eigenwilligkeit» und «Eigensinn» (Kade, Nittel & Seitter 2007, S. 85) der Erwachsenen, die sich in der Kursinteraktion verschiedenartig äussern können, z.B. als störendes oder widerständiges Verhalten oder einfach dadurch, dass Kursinhalte für Erwachsene sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können, ohne dass dies von den Kursleitenden bzw. professionellen Erwachsenenbildner*innen im Sinne einer pädagogischen Vermittlungsabsicht gelenkt und gesteuert werden kann. Insofern werden Kursleitende hier zu Lernbegleiter*innen, die Teilnehmer*innen Möglichkeitsräume eröffnen und mit der Offenheit und Ungewissheit von Lern- und Bildungsprozessen in der konkreten Bildungsarbeit umgehen müssen.
Mit Biografieorientierung ist das ausdrückliche Einbeziehen und die Berücksichtigung der biografisch aufgeschichteten, identitätsbildenden Lern- und Lebenserfahrungen der einzelnen Teilnehmer*innen gemeint, die ebenfalls das Lehr-/Lerngeschehen beeinflussen. Das ist in hohem Masse anschlussfähig an die Realität von Erwachsenenbildung, da Kursleitende häufig mit biografischen Äusserungen ihrer Teilnehmer*innen im Kursgeschehen konfrontiert sind, ohne dass notwendigerweise klar ist, wie sie damit umgehen können. Das didaktische Prinzip der Biografieorientierung bietet explizit die Möglichkeit, dies in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung in das Lehr-/Lernarrangement einzubinden – je nachdem, wie es das jeweilige Thema erforderlich macht. Inzwischen liegen hierzu zahlreiche methodische Anleitungen und Impulse vor, wie die Arbeit mit (oder auch an) Biografien gestaltet und in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung sinnvoll integriert werden kann (z.B. Auer et al., 2020; Hölzle & Jansen 2011).
Ein weiteres wichtiges, daran anknüpfendes Prinzip ist das der Lebensweltorientierung, das ursprünglich aus der sozialen Arbeit stammt (vgl. Grundwald & Thiersch 2014) und von der Erwachsenenbildung aufgegriffen worden ist, wobei unter Lebenswelt der «individuelle Kosmos der Selbstverständlichkeiten, in dem wir leben» (Arnold 2010, S. 185) verstanden wird, der für den «Einzelnen Gewissheit, Identität und Zugehörigkeit» (ebd.) bedeutet. Als didaktisches Prinzip greift Lebensweltorientierung diesen individuell bedeutsamen Erfahrungsraum auf und macht ihn zum Ausgangspunkt von Lern- und Bildungsprozessen. Insbesondere bei der Ansprache neuer Zielgruppen bzw. der Gewinnung neuer Teilnehmender ist die Lebensweltorientierung wichtig, vor allem, wenn Erwachsenenbildung dieses Prinzip nutzt, um Angebote direkt im sozialen Nahraum – im Sinne einer aufsuchenden Bildungsarbeit (vgl. Bremer & Kleemann-Göhring 2011) – zu etablieren.
Individualisierung als Risiko und Chance
Das Zukunftsinstitut sieht in der Individualisierung einen gesellschaftlichen «Megatrend» und «das zentrale Kulturprinzip der aktuellen Zeit».4 Mit fortschreitendem sozialem und technologischem Wandel werden sich Individualisierungsprozesse in vielen gesellschaftlichen Bereichen fortsetzen. Wahlfreiheiten und Selbststimmungsmöglichkeiten nehmen weiter zu und tragen prinzipiell zu steigenden Teilhabechancen aller Gesellschaftsmitglieder bei. Zugleich lassen sich aber auch divergierende Erscheinungen auf vielen Ebenen ausmachen, vor allem angesichts der grossen gesellschaftlichen und nur gemeinsam zu lösenden Herausforderungen, wie Klimawandel, Demokratiebildung oder Krisen aller Art. Und so stellt sich die Frage, inwiefern Individualisierung langfristig zu Lasten der Gemeinschaft geht, zur Vereinzelung und folglich zum Verlust von Solidarität und zur Zunahme von Ungleichheit führt oder aber inwiefern darin auch die Chance für die Entstehung von Alternativen liegt, z.B. durch die Entwicklung innovativer Formen der Vergemeinschaftung, Entstehung neuer sozialer Bewegungen oder – wie es das Zukunftsinstitut formuliert – durch die Herausbildung eines sich «co-individuell im Wir entwickelnde[n] Ich». Für die Erwachsenenbildung sind diese Fragen nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive interessant, da sie Ausgangspunkt von theoretischen Überlegungen und empirischer Forschung sein können, sondern vor allem auch gerade aus praktischer Sicht von Bedeutung, insofern Erwachsenenbildung hier nach wie vor eine aufklärende, vermittelnde und ausgleichende Funktion zukommt.
- Gemeint sind Erwachsene, die ein bestimmtes Mindestniveau an Schriftsprachkompetenzen unterschreiten und als «funktionale Analphabet*innen» gelten. Die LEO-Studie hat für Deutschland eine Zahl von 6,2 Millionen Deutsch sprechenden Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren identifiziert, die das betrifft (vgl. Grotlüschen & Buddeberg 2020). Seit den frühen 1980er Jahren haben diese Menschen Gelegenheit, in Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen an Volkshochschulen und anderen Bildungseinrichtungen Lesen und Schreiben zu lernen.
- Die in Deutschland 2016 ausgerufene «Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung (AlphaDekade)», ein Bündnis von Bund, Ländern und weiteren gesellschaftlichen Partnern, hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2026 den funktionalen Analphabetismus deutlich zu verringern und das Grundbildungsniveau zu erhöhen. (https://www.alphadekade.de/alphadekade/de/home/home_node.html [zuletzt abgerufen am 11.02.2023].
- Insofern «neu», weil – so Junge (2002, S. 9f.) – sich bereits etliche soziologische «Klassiker» wie etwa Durkheim, Simmel oder Weber bereits mit Individualisierung, Modernisierung und damit verbundener Autonomisierung des Individuums befasst haben (vgl. hierzu auch Kippele 1998).
- Das 1989 von Matthias Horx gegründete Zukunftsinstitut ist ein Think-Tank zur Zukunfts- und Trendforschung. https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-individualisierung/ [zuletzt abgerufen am 15.02.2023]
Literatur
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