Die Reise ins Digitale hat erst richtig begonnen
Pandemiebedingt hat die Akademie für Erwachsenenbildung aeB-Schweiz Anfang 2020 die Angebote digitalisiert. Inzwischen hat sich viel getan. Zurück zum Status vor Corona möchte man nicht. Ein Gespräch mit dem Bereichsleiter Innovation und Beratung, Benjamin Moser, und der Digital-Trainerin Hana Ditetova.
Die aeB-Schweiz hat ihr Angebot stark digitalisiert. Wo stehen Sie heute?
Benjamin Moser (BM): Der Prozess wurde zwar nicht durch die Pandemie ausgelöst, aber durch sie enorm vorangetrieben. Wir sind schneller viel weitergekommen, als es im Rahmen eines klassisch geplanten Prozesses geschehen wäre, zumal wir aufgrund der Pandemie gezwungen waren, möglichst alle Bildungsangebote von einem Tag auf den andern zu digitalisieren.
Hana Ditetova (HD): Wir haben nicht bei null begonnen. Bereits vor zwei Jahren haben wir das SVEB-Zertifikat Kursleitende auf Blended Learning umgestellt. Im Zuge von Corona haben wir im Frühling 2020 auch die Präsenzunterrichtstage digitalisiert und somit bis Sommer erste Erfahrungen mit synchronen Lernsettings gesammelt. Dabei haben wir festgestellt, dass eine Eins-zu-eins-Umsetzung von analogen zu virtuellen Settings nicht möglich ist. In neuen Lernformaten haben wir die ganztägigen Ausbildungsblöcke aufgebrochen und mit kürzeren Webinaren, Projektarbeiten und Ansätzen von Flipped Learning angereichert. Dank eines iterativen Vorgehens und laufender Weiterentwicklung in der zweiten Hälfte des letzten Jahres konnten wir die Bedürfnisse der Teilnehmenden gezielter berücksichtigen und die Vorteile der Digitalisierung nutzen.
BM: Ja, die Pandemie war ein Treiber für die Digitalisierung von Bildungsangeboten. Gehen wir eine Ebene höher, wird klar, die Digitalisierung in der Bildung passiert nicht zum Selbstzweck. Wir digitalisieren Bildungsangebote nicht der Digitalisierung wegen. Es geht darum, gute, gelingende, effektive und effiziente Bildung zu machen und dabei die Potenziale der verfügbaren Mittel zu nutzen. Dazu gehören auch die wachsenden Möglichkeiten digitaler Medien.
Gibt es Weiterbildungsangebote, die Sie für nicht digitalisierbar halten?
HD: Es gibt Situationen, in denen eine Präsenzveranstaltung mehr Sinn macht, sei es aufgrund des Inhalts oder der digitalen Reife der Zielgruppe. Ich denke da an gruppendynamische Bereiche oder an die Teilnehmenden, die ihre digitale Kompetenz erst am Entwickeln sind. Hier kann eine Online-Sozialisierung mit Präsenzbegleitung sinnvoller sein. Gleichzeitig muss gesagt werden, dass der Lernzuwachs in den Bereichen der digitalen Kompetenz gerade der Anwendung wegen sehr steil war, viel steiler, als wir es je für möglich gehalten hätten. Überraschend war auch, wie persönlich die virtuellen Sessions sein können und wie schnell man in einen persönlichen Kontakt zueinander tritt. Ebenfalls scheint die Zusammenarbeit virtuell wesentlich intensiver als im Präsenzunterricht. Selbst das Gruppengefühl ist da. Die Leute kennen sich nach ein, zwei Sessions und fangen mit einem informellen Small-Talk an.
Es geht nicht um die Frage, wie wir bisherige, vorwiegend analoge Angebote in digitale Settings übertragen.
BM: Ihre Frage ist verständlich. So formuliert greift sie aber zu wenig weit. Wir müssen lernen, neu zu denken. Es geht nicht um die Frage, wie wir bisherige, vorwiegend analoge Angebote in digitale Settings übertragen. Tun wir das, nehmen wir von Anfang an Qualitätseinbussen in Kauf. Im besten Fall können wir ein bestehendes Produkt in einer verschlankten Version in ein neues Medium transportieren. Die Erfahrung der letzten zwölf Monate hat uns bestätigt: Es lohnt sich, auf einer grünen Wiese anzufangen. Wir sollten vergessen, was wir vorher gemacht haben und uns auf Erkundung begeben. Dann passiert, was Hana Ditetova gesagt hat: Man entdeckt plötzlich Überraschendes.
Und in diesem Erkundungsmodus sind Sie nun?
BM: Am Anfang der Pandemie mussten wir von einem Tag auf den andern transformieren. Heute, nach über einem Jahr, sind wir in diesem Prozess deutlich weitergekommen. Es geht längst nicht mehr darum, wie wir Unterrichtseinheiten ohne Qualitätseinbussen online anbieten können. Es geht vielmehr um die Frage, wie wir die gesammelten Erfahrungen nutzen können, um einen Schritt weiterzugehen. Es geht darum, die neu gewonnenen Optionen zu nutzen, zu reflektieren, was wir Neues können und was an Neuem passiert. Die Menschen wollen Möglichkeiten für Begegnung, für Treffen und Austausch. Wir haben nun die Chance, diesen Bedürfnissen in virtuellen Formaten zu begegnen und so zu ermöglichen, was in realen Settings jetzt eben nicht möglich ist. Was wir wollen, ist die Entwicklung von Bildungsangeboten mit all ihren Potenzialen. Dazu nutzen wir alle Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen.
HD: Wir haben ganz deutlich gemerkt, dass die Teilnehmenden auch in den Online-Settings den informellen Austausch wünschen, obwohl sie sich noch nie begegnet sind. Diese schöne Erfahrung werden wir nun für die Weiterentwicklung unserer Formate nutzen. Und es gibt noch viele andere Vorteile und Möglichkeiten, die wir entdeckt haben.
Es geht nicht um Perfektion, sondern um Beziehungsgestaltung und ums gemeinsame Ausprobieren.
Grüne Wiese, exploratives Vorgehen – das klingt alles wunderbar. Aber man könnte auch Trial and Error dazu sagen.
HD: Ich denke, es braucht ein neues, offenes Mindset. Es geht nicht um Perfektion, sondern um Beziehungsgestaltung und ums gemeinsame Ausprobieren. Mit jeder Iterationsschlaufe entwickeln wir uns weiter, sowohl die Teilnehmenden als auch die Ausbildenden. Für uns als Institution stellt sich die Frage, welche Kompetenzen, Potenziale und Vorteile haben wir und wie bringen wir sie zusammen. Auch Erfahrungen mit dem Scheitern gehören dazu. Immer wieder zeigt sich, dass es gerade die kleinen Fehler sind, das Unvorhergesehene und die Fähigkeit natürlich mit diesen Situationen umzugehen, die zu einer entspannten und vertrauensvollen Atmosphäre beitragen. Sie schaffen überraschende und inspirierende Erlebnisse.
Sie werden kaum von Anfang an über alle notwendigen Kompetenzen verfügt haben. Wie haben Sie sie sich beschafft?
HD: Im Netz gibt es tausende Weiterbildungen. Und sie sind weltweit zugänglich. Die angelsächsischen Länder sind in der Digitalisierung der Lehre viel weiter als wir. Es lohnt sich also, auch dort mal zu schauen. Wir haben uns natürlich auch über die Erfahrung in anderen Institutionen oder anderen Branchen informiert.
Und Ihre Leute haben mitgemacht?
HD: Wir haben einen viel intensiveren Austausch im Team gepflegt. Wir führten zum Beispiel ein wöchentliches Zoom-Meeting ein. So konnten wir die kollaborativen Ansätze leben. So etwas gab es früher nicht.
Das heisst: Die Dozierenden blieben dieselben. Aber die Formen der Zusammenarbeit haben sich geändert.
HD: Im Prinzip ja. Dank der digitalen Möglichkeiten konnten wir zusätzlich mit externen Dozierenden zusammenarbeiten, wenn uns bestimmte Kompetenzen fehlten. Indem wir selber an den Anlässen teilnahmen, lernten auch wir Neues.
BM: Das unterstreicht, was wir mit neuem Denken meinen. Im Vordergrund steht das Gemeinsame. Auch die Kompetenzen der Teilnehmenden können gezielter einbezogen werden. Man ist nicht allein, sondern gemeinsam in einem Lernprozess unterwegs. Das ist nun kein neuer Gedanke. In der Bildung sprechen wir schon lange vom Lernerlebnis, davon, forschend, partizipativ, spielend und ressourcenorientiert zu lernen. Und jetzt verfügen wir über neue Möglichkeiten, den Horizont zu erweitern.
Hat sich die Digitalisierung auf die Teilnahme ausgewirkt? Auf die Art der Partizipation?
HD: Die Intensität des Austausches zwischen den Teilnehmenden einerseits, mit uns Dozierenden andererseits hat deutlich zugenommen. Deshalb braucht es ganz andere Lernsettings und Problemstellungen als früher. Und wie erwähnt: Das Gemeinsame hat einen bedeutenderen Stellenwert gewonnen. Wir bewegen uns in Richtung Learning Community. Darin moderieren und begleiten wir Lernprozesse eher, anstatt sie zu steuern. Und wir sind für die Interaktion verantwortlich. Gerade, weil der informelle Austausch an der Kaffeemaschine fehlt, müssen wir die Lernsettings so gestalten, dass das Formelle und das Informelle zusammenfliessen.
Wir bewegen uns in Richtung Learning Community.
BM: Die Bedürfnisse der Teilnehmenden haben sich nicht verändert. Nur passieren Pausengespräche auf einer digitalen Plattform halt nicht einfach, sie müssen eingeplant werden.
HD: Wir haben beispielsweise angefangen, etwa eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Kursbeginn einen individuellen Austausch anzubieten. Teilnehmende können so untereinander oder mit uns Dozierenden in Kontakt treten.
BM: Gleichzeitig sind wir viel näher bei den Teilnehmenden, bei ihnen zuhause oder an ihrem Arbeitsplatz. Wir können sie viel kurzfristiger und bedarfsorientiert abholen. Ebenfalls können wir die Rhythmisierung kürzer takten. Dies ist beim Präszenunterricht bedingt möglich, wenn die Leute von weit her kommen. Jetzt können wir die gemeinsame Zeit auf eine Woche verteilen. Und den Inhalt dort hinbringen, wo es für die Teilnehmenden am besten passt.
Das klingt alles sehr gut. Aber Sie sind nun völlig von einem digitalen Medium abhängig. Ohne dieses kein Lernen.
HD: Natürlich gibt es neue Abhängigkeiten: Internetverbindungen, Hard- und Software. Viele Abhängigkeiten verstehen wir vielleicht noch gar nicht in ihrem vollen Umfang. Doch für uns schafft die Technologie in erster Linie Möglichkeiten. Wir hatten zum Beispiel Lernsettings mit 25 Studierenden, die alle gleichzeitig arbeiten konnten. Jeder für sich im eigenen Zuhause und gleichzeitig in der Gruppe. Diese Kombination von Individuellem und dem Kollektiv haben wir in einem analogen Setting nicht. Logischerweise braucht es gewisse technische Voraussetzungen und Kompetenzen. Aber diese wachsen. Am Anfang mussten wir noch darüber sprechen, wo man das Mikrophon einschaltet. Jetzt kann man von einer breiten Basiskompetenz ausgehen. Wenn, wie eine Teilnehmerin es ausdrückte, vergessen geht, dass wir uns über einen Bildschirm begegnen, haben wir erreicht, was wir anstreben: Das Medium wird eingesetzt, aber nicht wahrgenommen.
Sie tönen beide ziemlich enthusiastisch. Aber es gibt doch auch Risiken.
BM: Daten sind bekanntlich das neue Öl. Daran haben viele ein Interesse und es besteht ein neuer Markt. Wir haben es mit teilweise wahrnehmbaren, aber auch ungeahnten Gefahren von neuen Abhängigkeiten zu tun. In unserer Gesellschaft findet eine Auseinandersetzung statt, bei der es um die Potenziale der Technik einerseits, um die Erschliessung von Interessen über die Marktlogik andererseits geht. Deshalb ist es wichtig, auf einer übergeordneten Ebene zu fragen, welche Aufgaben und Chancen Bildung in der Gesellschaftsentwicklung hat.
HD: Ein weiteres Risiko ergibt sich, wenn die digitalen Lernsettings durch die technische Voraussetzung bestimmt werden, nicht aber durch die didaktische Gestaltung. Da nehmen wir einen Kompetenzentwicklungsbedarf bei den Ausbildenden wahr. Gerade im Bereich Erwachsenenbildung ist das kritische Hinterfragen der didaktischen und technischen Möglichkeiten für die Bildung der Zukunft notwendig, dies soll auch in den Lernplänen berücksichtigt werden.
Sprechen wir noch über Preise: Haben Sie für Ihre digitalen Angebote Anpassungen vorgenommen?
BM: Auf die Umstellung bezogen: nein. Die zusätzlichen Kosten für die Anpassungen bzw. die Umstellung verstehen wir bei der aeB Schweiz als Investition in die Zukunft. Mit Blick nach vorne: Wenn man das Gesamtpaket anschaut, ist der Preis eine Frage von vielen. Wenn man neu denkt, müssen Bildungsangebote auf allen Ebenen angepasst werden; sie werden neu rhythmisiert, strukturiert und neue didaktische Potenziale werden ausgenutzt. Schliesslich muss man auch das entsprechende Personal einplanen. Wir sprechen ganz einfach von neuen Angeboten, für die eine sinnvolle und faire Preisstruktur geschaffen wird.
Wir sprechen ganz einfach von neuen Angeboten, für die eine sinnvolle und faire Preisstruktur geschaffen wird.
HD: Wenn wir individualisierter arbeiten können, können wir auch viel mehr in die Lernbegleitung investieren. Dementsprechend ist das Preismodell auch zu flexibilisieren. Für die Teilnehmenden stellt sich die Frage: Was will ich lernen und wie viel bin ich bereit, dafür zu bezahlen?
Individualisierung ist ein wichtiges Stichwort. Das bedeutet aber doch auch, dass es für die Teilnehmenden komplexer, ja vielleicht auch komplizierter wird, Angebote auszuwählen.
HD: Ich weiss nicht, ob es komplexer wird. Vielleicht wird es etwas komplizierter. Aber die Individualisierung macht Sinn. Unsere Aufgabe ist es, Transparenz zu schaffen und die Teilnehmenden individuell zu beraten und zu betreuen. Dann wird der Umgang mit etwas Kompliziertem einfacher.
BM: Oft merkt man erst, wie viel unnötig Kompliziertes man macht, wenn man beginnt etwas Neues auszuprobieren. So führten z.B. die begrenzten Individualisierungsmöglichkeiten vor Ort zu einem hohen Moderationsaufwand. Diesen haben wir immer als selbstverständlich hingenommen. Wir werden nun viel neues Potenzial entdecken, solange wir mit neuen Individualisierungsmöglichkeiten konsequent Neues ausprobieren. Beziehungsgestaltung und Beziehungszeit rücken in den Vordergrund und das entspricht den Bedürfnissen der Teilnehmenden. Das ist auch unabhängig von der Digitalisierung der Fall.
Was passiert, wenn die Pandemie vorüber ist und sich alle wieder in Schulungsräumen versammeln dürfen? Wird man das Rad zurückdrehen und zum analogen Setting zurückkehren?
BM: Hoffentlich können wir die Reise mit all den wertvollen Erfahrungen konsequent fortführen. Wir wollen einen Schritt weiter gehen und die neu entdeckten Optionen nutzen, um Handlungsräume zu erweitern, und Menschen mit ihren Potenzialen verbinden. Wir wollen mutig Neues ausprobieren und gemeinsam mit den Teilnehmenden in die Zukunft hinein lernen.
HD: Wir haben entdeckt: Man kann den Kontakt zu den Teilnehmenden und zu den Kolleginnen und Kollegen auch digital herstellen und halten. In einen Kursraum zu gehen, um jemanden zuzuhören, macht keinen Sinn. Das kann ich jetzt von zuhause aus. Die Begegnungen sollen persönlich anregen und inspirieren. Die Vielfalt einer Gruppe mit ihrer kreativen Energie und den unterschiedlichen Denkweisen eröffnen uns neue Lösungswege und Lernchancen – im Hier und Jetzt, im Austausch und vor allem durch die gemeinsame Handlung.
Vor einem Jahr führte die Umstellung von Bildungsangeboten auf Distance und Digital Learning zu einem grossen Zuwachs der digitalen Kompetenz sowohl bei den Ausbildenden wie bei den Teilnehmenden. Und doch steht die Erwachsenenbildung bei der Nutzung der Potenziale von digitalen Medien erst am Anfang. Denn es geht nicht mehr darum, wie Unterrichtseinheiten ohne Qualitätseinbussen online angeboten werden können. Vielmehr geht es darum, aufgrund der gesammelten Erfahrungen und den neu gewonnenen Möglichkeiten Bildungsangebote vielfältiger zu gestalten sowie die Erfahrungen und Fähigkeiten der Teilnehmenden gezielt einzubinden.