Bildung für Nachhaltigkeit – ein langwieriger Prozess
Die Stiftung SILVIVA bietet seit 1985 Weiterbildungen mit Schwerpunkt Umwelt, Bildung für Nachhaltigkeit und transformatives Lernen an. Die Angebote richten sich an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Dass SILVIVA gerade diese Zielgruppe anvisiert, basiert auf der Überzeugung, dass Bildung für Nachhaltigkeit ein langfristiger Prozess und letztlich eine Generationenaufgabe ist. Wir sprachen mit Alice Johnson, verantwortlich für den Lehrgang CAS Naturbezogene Umweltbildung, und Helene Sironi, Ausbildungsleiterin SVEB-Kurse.
Interview: Ronald Schenkel
Frau Johnson, Frau Sironi, Ihre Angebote richten sich an Lehrpersonen, Trainerinnen oder Trainer, kurz gesagt Vermittlerinnen und Vermittler. Warum ist gerade diese Zielgruppe für Sie wichtig?
Alice Johnson: Das hat mit der Frage der Wirkung, aber auch ein wenig mit uns und unserer Organisation zu tun. Wir sind eine kleine nationale Organisation, verfügen über etwa 700 Stellenprozente in drei Sprachen. Das heisst, wenn wir mit Schulklassen direkt arbeiten wollten, dann hätten wir eine sehr geringe Wirkungskraft. Die Arbeit mit Multiplikatoren – dazu zählen auch Schulleitungen, PH, Dozentinnen an Hochschulen – erzielt eine andere Breitenwirkung.
Helene Sironi: Bildung für Nachhaltigkeit und transformatives Lernen ist kein kurzfristiger Prozess. Lehrpersonen oder Personen in der Erwachsenenbildung garantieren eine langfristige Wirkung, indem sie transformatives Lernen über Generationen hinweg begleiten können. Das gilt auch für andere Vermittlungsaufgaben. Ob wir nun von Coachen, Facilitation oder Moderation sprechen, immer sind damit Begleitprozesse gemeint.
Aus welchen Bereichen kommen Ihre Teilnehmenden?
Johnson: In der Deutschschweiz sind es im CAS heute bis zu 80% Lehrpersonen. In der Romandie ist ihr Anteil etwas geringer, er beträgt vielleicht 50%. Darüber hinaus besuchen Personen mit einem konkreten Bezug zur Natur unsere Kurse, also Forstwarte, Gärtnerinnen, Biologen, Umweltnaturwissenschaftlerinnen. Und in jedem Kurs gibt es auch ein paar Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, deren Hintergrund von den oben genannten Profilen abweicht. Sie haben ganz einfach eine Möglichkeit entdeckt, engeren Kontakt zur Natur herzustellen, mehr Wissen über die Natur zu sammeln und schliesslich in irgendeiner Rolle vermittelnd tätig zu werden.
Wie sieht das im SVEB-Kurs aus?
Sironi: Im SVEB-Kurs hat etwa die Hälfte ein Umweltstudium absolviert, sei es Biologie, Umweltwissenschaft oder Geographie. Andere haben «grüne» Berufe, sind Landwirte, Gärtnerinnen oder Umweltberater. Das Spektrum ist sehr breit.
SILVIVA ist seit knapp 40 Jahren aktiv, wobei es immer darum ging, in die Natur hinauszugehen und dort zu lernen. Trägt dieses Konzept auch heute noch, im Zeitalter von Digitalisierung und Virtual Reality?
Johnson: Umweltbildung, wie wir sie verstehen, ist Bildung für nachhaltige Entwicklung an den Beispielen Naturräume oder natürliche Ressourcen. Der Begriff wird heute als etwas eher Altbackenes wahrgenommen, aber die Inhalte werden weiter nachgefragt. Charakteristisch für unsere Angebote ist übrigens bis heute, dass das Lernen draussen im Vordergrund steht.
Funktioniert das für alle Teilnehmenden gleich gut?
Johnson: Dieser Lernzugang funktioniert nicht für jeden gleich gut. Aber die Personen, die unsere Kurse belegen, suchen natürlich genau das. Sie sind überzeugt vom Wert dieser Art des Lernens und wollen die Erfahrung ihren Schülerinnen und Schülern oder Erwachsenengruppen ebenfalls vermitteln. Ich denke, das Lernen in der Natur öffnet einen zusätzlichen Zugang zum Lernen, indem man sich sinnlich erfahrbar mit Phänomenen auseinandersetzt.
Sie sagen, ein zentraler Aspekt der Ausbildung liege in der Befähigung, Prozesse in Gang zu bringen. Welche Rolle spielen eigentlich noch Umweltfakten und deren Vermittlung?
Johnson: Umweltfakten sind nach wie vor nicht vernachlässigbar, auch wenn man das Gefühl hat, man wisse schon alles. Es gibt in den Kursen oft Aha-Effekte. Die Leute erfahren etwas, das sie nicht gewusst haben, obwohl ihre Wissensbasis bereits relativ breit ist. Und es ist etwas Anderes, ob man eine Information zum Beispiel über Ressourcenknappheit via Medien zur Kenntnis nimmt oder sich damit im Rahmen einer Diskussion über Ressourcenmanagement auseinandersetzt. Darin liegt der Nutzen des Kurses: Es geht um Reflexion, Kontextualisierung und Vertiefung von Fakten, was wiederum die Überzeugungsfähigkeit der Teilnehmenden stärkt.
Sironi: Jeder und jede Teilnehmende interpretiert die Fakten unterschiedlich aufgrund der jeweiligen Sozialisierung, des Ausbildungs- und Erfahrungshintergrundes. In den Kursen ist dies wertvoll, denn im Austausch mit anderen lernt man erst unterschiedliche Sichtweisen kennen. Für die zukünftige Arbeit als Lehrperson oder Kursleitende ist das gerade mit einem mitunter aufgeladenen Thema wie zum Beispiel Klimawandel eminent wichtig. Am Ende geht es darum, weiterzukommen. Dafür muss man lernen, mit anderen Sichtweisen umzugehen, diese zu respektieren und seine eigenen Perspektiven zu überdenken.
Weiterkommen, ins Handeln kommen: Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, so geht es aber am Ende doch darum?
Sironi: Wenn wir uns nur die Fakten anschauen, zum Beispiel zum Klimawandel oder Biodiversitätsverlust, so fühlen wir uns unter Umständen hilflos. Jemand, der eine umwelt- oder naturbezogene Weiterbildung durchlaufen hat, sollte in der Lage sein, als Vermittlerin oder Vermittler seinen Teilnehmenden einen Weg aus dieser Hilflosigkeit aufzuzeigen und ihnen Instrumente und Kompetenzen an die Hand zu geben, damit sie in einem konkreten Bereich etwas bewirken können.
Welche Kompetenzen meinen Sie?
Sironi: Wir orientieren uns an den BNE-Kompetenzen und den Kompetenzen für das 21. Jahrhundert, wie sie etwa auf «education21», dem Portal für Nachhaltige Entwicklung, festgehalten sind. Dabei geht es um den Aufbau interdisziplinären und mehrperspektivischen Wissens, um vernetztes Denken, vorausschauendes Denken und Handeln oder kritisch-konstruktives Denken, um nur vier der Kompetenzen zu nennen. Am Ende sollen alle diese Kompetenzen dazu beitragen, dass man Handlungsspielräume erkennt und als Kursleiterin, Kursleiter oder Lehrperson mit seinen Teilnehmenden im Sinne der Nachhaltigkeit aktiv wird.
Welchen Effekt haben gesellschaftliche Phänomene oder Graswurzelbewegungen wie etwa die Klimajugend auf Ihre Tätigkeit? Gibt es da Wechselwirkungen?
Sironi: Die Aktionen der Klimajugend sind politisch motiviert. Wir dagegen sind in der Bildung tätig. Aber wir hatten konkret im SVEB-Kurs auch schon Teilnehmende, die sich als Klimajugendliche engagiert hatten. Bildungsaufgaben sind langfristig angelegt. Politische Aktionen sind eher punktuelle Ereignisse. Es braucht beides und im besten Fall ergänzen sich die Aktivitäten.
Haben die politischen Bewegungen denn Auswirkungen auf die Teilnehmendenzahlen?
Johnson: Das ist schwer zu sagen. Es lässt sich schlecht unterscheiden, was z.B. durch die Klimabewegung ausgelöst wurde oder was durch Corona. Im Nachgang der Pandemie sind unsere Teilnehmendenzahlen auf jeden Fall gestiegen. Vielleicht haben sich die beiden Phänomene ergänzt. Die Klimabewegung hat bei vielen Leuten sicherlich das Bewusstsein geweckt oder gestärkt, während die Isolation aufgrund der Corona-Pandemie ganz einfach die Lust auf Weiterbildung geweckt hat – und vielleicht auch die Lust, mehr draussen zu sein. Inzwischen hat sich das etwas beruhigt.
Sironi: Beim SVEB-Kurs war es eher so, dass der Boom in der Romandie stattfand. Man muss aber bedenken, dass es in der Deutschschweiz deutlich mehr alternative Weiterbildungsangebote für Ausbildende gibt. Auch ist in der Romandie die Community kleiner und die Mund-zu-Mund-Propaganda spielt besser. Wir hatten aber auch schon Teilnehmende, die bereits ein SVEB-Zertifikat in der Tasche hatten und trotzdem den ganzen Kurs absolvierten – wegen der spezifischen Ausrichtung auf Umweltbildung, Bildung für Nachhaltigkeit und transformatives Lernen.
Erkennen Sie, dass Ihre Angebote zur nachhaltigen Entwicklung der Schweiz beitragen?
Sironi: SILVIVA bildet und begleitet Menschen im Bereich Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) mit Fokus Draussenlernen. Wir haben bereits zahlreiche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren auf allen Bildungsebenen ausgebildet, die unsere Anliegen weitertragen und eben «multiplizieren».
Wo sehen Sie Handlungsbedarf, damit die Schweiz noch nachhaltiger wird?
Sironi: Überall, ständig, in allen Bereichen, der Prozess ist nie abgeschlossen.